Das Bernsteinzimmer
Alles versank in Schlamm und Morast, selbst Telefonverbindungen zwischen Kompanie und Bataillon brachen zusammen, die Suchtrupps blieben im Schlamm stecken, alles mußte zu Fuß gemacht werden, mit Fahrzeugen war überhaupt nicht mehr durchzukommen. Mit anderen Worten: Nichts ging mehr auf der ganzen Linie!
»Dann schreiben wir einen Brief«, sagte Dr. Findling. »Vielleicht ist die Briefpost besser dran als das Telefon. So etwas Verrücktes gibt es.«
In der Stabsliste der 18. Armee, die Koch vorliegen hatte, fand man den Namen des verantwortlichen Mannes: Major Pietschmann, Nachschubführer der 18. Armee. An ihn schrieb Dr. Findling im Namen von Gauleiter Koch, man möge die noch vorhandenen zwei Türen des ehemaligen Bernsteinzimmers in Puschkin, Katharinen-Palast, vorsichtig und mit Hilfe von Schreinern ausbauen lassen, gut mit Holzwolle und Pappverschalungen verpacken und dann an die Kunstsammlungen der Stadt Königsberg schicken. Um dem Wunsch den nötigen Nachdruck zu geben, fügte er noch hinzu:
»Diese Türen gehören zu einem Kunstwerk, das zu seinem Schutz vor Vernichtung auf Anordnung des Führers von uns ausgebaut und gerettet wurde. Ich habe dem Führer darüber Bericht zu erstatten. Herr Rittmeister Dr. Wollters, der die Aktion leitete, wird in den nächsten Tagen in Puschkin eintreffen, um die sachkundige Abwicklung des Türentransportes zu überwachen.«
»Das ist gut formuliert!« lobte Dr. Wollters den Brief, nachdem Findling ihn vorgelesen hatte. »Anordnung des Führers … da kann keiner dran vorbei!«
»Und es ist zudem auch noch die Wahrheit.«
»Ich werde morgen schon aufbrechen.«
»So schnell, Dr. Wollters?« Runnefeldt zeigte irgendwohin. »Wir haben die Kisten noch nicht alle ausgepackt. Wollen Sie nicht warten, bis …«
»Die Zeit ist kostbar, lieber Runnefeldt. Jetzt wegen der Türen um so mehr. Eile tut not! Nach Riga werde ich ohne große Schwierigkeiten kommen, und von Riga aus will ich versuchen, in einer Kuriermaschine zur 18. Armee einen Platz zu bekommen. Du lieber Himmel, Puschkin liegt doch auf keinem anderen Stern, da muß man doch hinkommen können!«
Schon am nächsten Tag fuhr Dr. Wollters mit einem Militärtransportzug nach Osten. Sein Abschied war kurz und knapp … ein Händedruck bei Dr. Findling und Dr. Runnefeldt, ein Blick wie auf eine Made für Wachter. Als die Tür hinter ihm zuklappte, atmeten die anderen tief auf. Aber keiner sprach aus, was er in diesen Minuten dachte.
Um es vorwegzunehmen: Der Brief erreichte Major Pietschmann am 17. Januar 1942, am 20. Januar waren die Türen ausgebaut und am 25. Januar trafen sie mit einem Lazarettzug von der Leningradfront in Königsberg ein. Die Nachschuborganisation, die gesamte Logistik arbeitete vorzüglich. Der Oberquartiermeister und IC der 18. Armee mußte ein hervorragender Mann sein.
Den Türen lag ein Briefchen von Dr. Wollters bei. Ein knapper, unverbindlicher Gruß und die völlig uninteressante Mitteilung, daß es ihm gut gehe.
Das war die letzte Nachricht von Rittmeister Dr. Wollters. Das Schlafzimmer Katharinas der Großen tauchte nie wieder auf, genausowenig eine Reihe Ikonen der Nowgoroder Schule, Gemälde, Gold- und Silberarbeiten, Teppiche und Gobelins. Auch die Kisten mit den vergessenen Bernsteinwandfriesen, ein Höhepunkt der Arbeit von Rastrelli, blieben unauffindbar.
Als Dr. Wollters den Katharinen-Palast wieder verließ, folgten ihm drei Lastwagen bis nach Riga. Was unter ihren Planen lag, kontrollierte niemand und interessierte auch nicht. Man hatte andere Sorgen im Kampfgebiet: Ein mörderischer Winter war ausgebrochen, die Truppe hatte nicht genügend Wintermäntel, Schals und Ohrenschützer, kaum Handschuhe und fast gar keine Filz- oder mit Fell gefütterte Stiefel. Alles erstarrte unter unvorstellbarem Frost und Eis, in den Wäldern hinter den Fronten überfielen Partisanen deutsche Trupps, sprengten Eisenbahngleise und Züge, zerstörten Brücken und vernichteten den Nachschub von Verpflegung und Munition. Wer kümmert sich da um einen Rittmeister mit drei klapprigen Lkws, zumal an die Türen Schilder geklebt waren Einsatzkommando Hamburg. Sonder-Kommando AA.
Wer fragte da noch nach einem Marschbefehl? Erstaunlich genug, daß das Außenministerium in Berlin ein Sonder-Kommando an der Front hatte.
Und noch mehr vorweggenommen: Niemand weiß, ob Dr. Wollters den Krieg überlebt hat, ob er vielleicht heute noch lebt, ein unbekannter Greis, in einem selbst geschaffenen Grabmal aus
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