Das Bernsteinzimmer
ihren dicken Wintermantel über und nahm einen Wollschal mit. Ganz plötzlich war mit dem scharfen Ostwind auch die Kälte über Königsberg hereingebrochen. Es schneite noch nicht, aber es gab bereits Nachtfrost, eine glatte Schicht bedeckte die Straßen, Hauswände und Dächer. Die Menschen tappten oder rutschten ihre Wege, die Fahrzeuge schlichen dahin. Der Kälteeinbruch war zu plötzlich gekommen, die wenigsten hatten sich darauf eingerichtet.
»Wo willst du hin?« fragte Frieda, als sie Jana mit Mantel, Schal und Strickhandschuhen sah.
»Ins Theater, Oberschwester. Eine Operette spielen sie. Der Vogelhändler.«
»Ich bin die Christel von der Post –« brüllte Frieda plötzlich los. Jana zuckte zusammen und starrte Frieda besorgt an.
»Was haben Sie, Oberschwester?«
»Das ist ein Lied aus dieser Operette, Kindchen. Mein Gott, der Vogelhändler. Sechsmal habe ich den gesehen. Zuletzt im Metropol-Theater von Berlin. Mit Johannes Heesters in der Hauptrolle. Schenkt man sich Ro-o-o-sen in Ti-i-i-rol …«
Auf einer Bühne wären jetzt die Kulissen umgefallen, aber Friedas Gesicht glänzte vom Glück der Erinnerung. Sie schwärmte heimlich von so vielem, von Zarah Leander und Ferdinand Marian, von Heinz Rühmann und Werner Kraus, von Heinrich George und Käthe Gold, von Gustaf Gründgens und Brigitte Horney … aber das alles schloß sie in ihren Panzer ein, um nicht irgendwo angreifbar zu sein.
»Gehst du allein ins Theater?« fragte sie mißtrauisch.
»Natürlich. Ich will mir sogar ein Theater-Abonnement kaufen. Für Sie auch, Oberschwester?«
»Danke, nein, mein Kind. Das sind festgelegte Tage, und ich will mich nicht binden.«
Das war ihr Geheimnis, ihr Credo, nach dem sie lebte: Nicht binden! Ganz gleich, was es war. Friedas Freiheitsdrang war allumfassend.
»Wann bist du wieder zu Hause?« fragte sie. Jana hob die Schultern.
»Ich weiß nicht, wie lange die Operette dauert.«
»Na, sagen wir zwei Stunden.« Frieda blickte provozierend auf die Uhr. »Jetzt ist es sieben Uhr. Um acht fängt's an, um zehn kann's aus sein. Um elf bist du wieder hier! Wird es später, kriegen wir Streit.«
»Jawohl, Oberschwester.«
»Ich will nur dein Bestes, Kindchen.«
»Ich weiß es. Einen guten Abend noch, Oberschwester.«
»Du auch … Gern hab' ich die Frau'n geküßt … Ach Quatsch, das ist ja aus Paganini …«
Begleitet von Friedas Gebrüll verließ Jana das Zimmer und durch die Seitentür der Einlieferung das Krankenhaus. Im Wachraum der Ambulanz saß wieder der Sanitäter Karl Bludecker und winkte ihr zu.
»Lange nicht gesehen, Schwester!« rief er. »Wo geht's denn hin? Ist verdammt glatt draußen. Halten Sie sich richtig fest an Ihrem Kavalier.«
»Ich gehe allein ins Theater. Der Vogelhändler.«
»Ist das das Stück, in dem jemand sagt: ›Mit Vögeln bin ich aufgewachsen!‹?«
»Bludecker, Sie sind ein Ferkel!« Jana schüttelte den Kopf. »Schämen Sie sich.«
»Wenn ich das mal könnte.« Bludecker grinste breit. »Viel Vergnügen, Schwesterchen. Übrigens, ist schon lange her, da hat jemand nach Ihnen gefragt. Ein Unteroffizier aus Berlin.«
»Julius Paschke.«
»Ja, so hieß er. 'ne tolle Type.«
»Und was haben Sie ihm gesagt?«
»›Da die Schwester –‹ habe ich gesagt ›– bei Frieda arbeitet, müßte er erst den Bunker knacken. Geh hin zu Frieda, aber vergiß nicht, 'nen Flammenwerfer mitzunehmen.‹ Da ist er abgezogen.«
»Um elf Uhr bin ich wieder hier.«
»Is gut. Ich hab Nachtdienst. Kannst jederzeit kommen, Schwesterchen. Noch mal, viel Vergnügen.«
An der Theaterkasse kaufte Jana Petrowna ein Abonnement für vier Opern, zwei Operetten und drei Schauspiele, aber keine Karte für den Vogelhändler an diesem Abend. Sie kehrte zum Schloß zurück und drückte die Klingel an der Tür eines Seiteneingangs. Dreimal kurz, einmal lang … so wußte Väterchen Michail, wer draußen stand.
Nach einer kurzen Wartezeit drehte sich der Schlüssel. Aber nicht Wachter öffnete, sondern ein anderer, fremder älterer Mann. Er schien gerade zu Abend zu essen, denn er kaute noch auf einem Bissen herum.
»Was is?« fragte er mißmutig. »Rote-Kreuz-Schwester?! Ist was los? Kann hier jemand nicht kacken?«
»Höflich sind Sie ja nicht!« schlug Jana Petrowna zurück.
»Warum auch?« Der kauende Mann sah sie mit leidvollem Blick an. »Machen Sie mal zehn Stunden lang Führungen durchs Museum! Da fliegt Ihnen das Häubchen weg, Schwester. Bei den Besuchern? Da haben wir ein
Weitere Kostenlose Bücher