Das Beste aus meinem Leben
Wahnsinnsstreit erahnen ließ.
»Was heißt ›Ach Gott!‹?«, sagte ich, selbst bemüht, Schärfe anklingen zu lassen.
»›Ach Gott!‹ heißt, dass du nicht nur die Längsstreben vergessen hast, sondern dich auch noch in Selbstmitleid ergehst«, sagte Paola.
Der riesengroße Wahnssinnsstreit war im Gange. »Du nennst es Selbstmitleid, wenn ich den Stress erwähne, den ich regelmäßig habe, bevor ich endlich in Urlaub fahren kann?!!«, sagte ich.
»Wirst du auch noch einen cholerischen Anfall bekommen?«, zischte sie. Paola hält mich für einen Choleriker. Doch ich bin kein Choleriker. Das Einzige, was mich wütend macht, ist, wenn man mich Choleriker nennt. Da könnte ich ausrasten. Ich hätte vor Wut die Längsstreben ins Wasser werfen können. Aber ich hatte sie ja vergessen.
Die Leute am Strand blickten neugierig. Ich vergaß mich. Ich zischte Paola eine Beleidigung ins Ohr. Mein Benehmen war untragbar. Ich zog mein T-Shirt aus, sprang ins Wasser, kraulte bis zum Rand der Bucht. Als ich zurückkehrte, war Paola weggefahren, mit Luis, der einige Meter weiter im Sand gespielt hatte. Die Bootsteile und der Buggy waren noch da. Ich trocknete mich mit meinem T-Shirt ab. Dann lud ich die Bootsteile auf den Buggy. Er schwankte unter der viel zu großen Last. Unsere Ferienwohnung befand sich mehrere Kilometer entfernt in einem Dorf auf einem kleinen Hügel. Ich begab mich dorthin, in Badehose, sonnendurchglüht, den schwer beladenen Buggy bergan schiebend, fluchend.
So könnte ein Film anfangen, denke ich heute: Ein Mann schiebt einsam und schwitzend einen mit einem Boot beladenen Buggy durch die Gegend. Damals dachte ich: Nie wieder rede ich mit ihr. Anwälte werden reden.
Wir redeten zwei Tage nicht. Ich ließ irgendwie die Längsstreben nachschicken. Wir vertrugen uns wieder. Bauten das Boot zusammen.
Ich hatte verloren, dieses Mal. Aber mal sehen, was der nächste Sommer bringt.
Orlando, der Vielfache
P aola, Luis und ich besuchten einen sehr kleinen Zirkus, der sein Zelt am Stadtrand aufgeschlagen hatte. An der Kasse saß ein Mann in mittleren Jahren. Er hatte schwarze, in der Mitte gescheitelte Haare, trug einen schmalen Clark-Gable-Schnäuzer und lächelte abwesend.
Wir setzten uns. Musik ertönte. Zwei Helfer trugen einen Kasten in die Manege. Eine Stimme rief, »Orlando, der Jongleur« werde seine Kunst darbieten. Ein kleiner, fast schmächtiger Mann sprang in großen Sätzen in das Rund. Er trug ein rot-weiß geringeltes Hemd und sah dem Herrn, der uns die Karten verkauft hatte, sehr ähnlich: schwarze Haare, Mittelscheitel, dünner Schnäuzer. Doch lächelte er nicht. Er öffnete den Kasten, entnahm ihm drei Keulen und begann zu jonglieren, das heißt: Er versuchte, mit dem Jonglieren zu beginnen, denn jedesmal, wenn er die Keulen ein wenig in der Luft bewegt hatte, fiel eine von ihnen zu Boden, und die anderen taten es ihr nach. Orlando hob sie wieder auf, begann von Neuem, scheiterte, versuchte es mit Bällen, scheiterte, versuchte es mit Reifen, scheiterte. Es war offensichtlich: Wenn dieser Mann etwas nicht konnte, dann war es Jonglieren.
Orlando trat ab.
Ponys galoppierten herein. Es dauerte etwas, bis ihr Dompteur folgte, ein Mann, ich wage es kaum zu sagen, der Orlando ähnelte wie ein Jonglierball dem anderen, nur dass sich über dem Ringelhemd nun eine Frackjacke spannte. Mir fiel das berühmte Zitat aus Marx’ und Engels’ Deutscher Ideologie ein, wonach es in der kommunistischen Gesellschaft möglich sei, »morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden«. Für Orlando schien der Kommunismus Wirklichkeit geworden zu sein, er riss Karten ab, jonglierte, dressierte…
Ja, die Pferdenummer absolvierte er mit Anstand. Luis stand begeistert auf seinem Sitz, auch Paola, die etwas von Pferden versteht, war erfreut. Wozu würde Orlando, der Vielfache, als nächstes Lust haben?
Seine Helfer trugen Stühle ins Rund, dazu vier Flaschen, auf welche Orlando, nun im weißen Artistendress, den ersten Stuhl mit seinen vier Beinen stellte. Er türmte weiter Stuhl auf Stuhl, ein schwankendes Gebilde errichtend, daran arbeitend wie ein bildender Künstler, immer wieder auf seinem Stuhlturm herumturnend – und weil er selbst uns gute Karten verkauft hatte und wir weit vorne saßen, konnte ich auf seiner Stirn Schweißperlen erkennen, die ich für Folgen der
Weitere Kostenlose Bücher