Das Beste aus meinem Leben
auch ertragen derlei schmutziges Schwelgen?‹ Passend, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie und wandte sich abrupt ab. Hatte sie einen Bekannten getroffen? Allmählich wurde mir durch den Wein neblig zumute. »Was soll dein blödes Bildungsgehubere!«, dachte ich. »Diese Juvenalzitiererei, albern. Du hast zuviel getrunken.« In Wahrheit tat mir der Mann ja leid. Es gibt nichts, was mich unwillkürlich mehr dauert, als einen Menschen allein essen zu sehen. Es hat etwas sehr Trauriges, wenn jemand ohne Gesellschaft essen muss.
Ein Kellner brachte Wein. Ich schüttete ihn hinab. Noch trauriger ist es aber, dachte ich, wenn man allein ist und nichts zu essen hat. Nur zu trinken. Um mich herum standen Leute, die Teller und Gläser balancierten. Manche versuchten, gleichzeitig zu rauchen oder sich zu küssen. Seltsamerweise wurde die Schlange vor dem Buffet nicht kürzer. Noch seltsamerweise sah ich den Filmproduzenten mitten in ihr. Konnte es sein, dass hier Leute zum zweitenmal aßen, während ich…? Ein Kellner eilte vorbei. Ich rief ihn zu mir und bat darum, mein Glas nachzufüllen.
Es hat was mit Würde zu tun, sich nicht auf ein Buffet zu stürzen, dachte ich, mit Selbstbeherrschung. Andererseits steht man dann hier mit seinem Hunger und so einem Gefühl von Minderrangigkeit. Es ist wie in der Steppe, dachte ich, zuerst fressen die Löwen, dann die Schakale, am Schluss die Geier. Man fühlt sich wie ein zweitklassiges Raubtier, hyänös irgendwie.
Der Filmproduzent war jetzt beim Nachtisch. Ich war so angetrunken, dass ich das Wort Filmproduzent nur noch lallend denken konnte, Filllmmmprosssent. Ich hätte jetzt gar nicht mehr essen können.
Jemand schlug mir auf die Schulter. »Lieber!«, röhrte er. »Haben Sie schon gegessen?«
Es war der Verleger W., ein alter Bekannter.
»Ja«, hörte ich mich leise sagen.
»Da hinten an der Bar gibt es einen Schnaps«, sagte er, »der wird uns gut tun nach dem vielen Essen.«
Ich folgte ihm taumelnd. Ich weiß nicht mehr, was wir geredet haben. Irgendwann ging ich. Das Letzte, was ich sah, war der Filmproduzent, der eine Zigarre rauchte und im Arm eine Blonde mit kurzen Haaren hielt. Sie trug ein kurzes Kleid und mintgrüne Slingpumps, und eines ihrer sehr langen Beine schlang sie im Stehen um seine Waden.
Die große Suche
Z u den traumatischen Erlebnissen meiner Kindheit gehört dieses: Ich kam aus der Schule, klingelte an der Tür meines Elternhauses – niemand öffnete. Ich war acht Jahre alt. Nie war meine Mutter nicht daheim gewesen, wenn ich klingelte. Nie.
Aber jetzt war sie nicht da.
Ich lief ums Haus herum. Klopfte an die Terrassentür. Nichts. Klingelte wieder. Nichts. Klingelte bei Nachbarn. Niemand da. Lief zum Supermarkt. Keine Mutter. Lief zurück, klingelte wieder. Nichts. Lief in meiner Verwirrung noch mal Richtung Supermarkt, weinte, lief schluchzend die Straße entlang – bis Mutter vor mir stand, die beim Zahnarzt gewesen war, nicht rechtzeitig den Behandlungsstuhl hatte verlassen können, dann nach Hause kam, wo ich nicht war und nun ihrerseits aufgelöst nach mir suchte.
Jetzt habe ich selbst einen Sohn, Luis. Ich saß neulich mit ihm und Bruno, meinem Freund, im Lokal. Luis stand unauffällig vom Tisch auf. Ging und kam nicht wieder. Als ich bemerkte, dass er weg war, suchte ich hektisch das Lokal ab, auch die Toiletten, erschreckte auf dem Damenklo eine Frau, filzte die Garderobe, rannte panisch auf die Straße, raste zum Tisch zurück – da saß Luis neben Bruno und malte. Wo war er? In der Küche. Hatte sich zwei Buntstifte vom Koch mit dem Küchenmesser anspitzen lassen. Er habe keinen Anspitzer gehabt, sagte er.
So ist der Luis. Organisiert sein Leben selbst, wenn es nötig ist. Und ich? Mit acht Jahren und mit 46: immer am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Folgendes geschah bei unserem letzten Italien-Aufenthalt: Wir badeten an buchtenreicher Küste, ich lag allein an einem winzigen Strand, Paola und Luis badeten fünfzig Meter weiter draußen vom Schlauchboot aus. Ein Kajakfahrer kam vorbei, grüßte lachend, setzte Luis auf sein Boot, paddelte davon, um den nächsten Felsen – und ward nicht mehr gesehen.
»He!«, rief ich Paola zu. »Was ist das?«
»Ein alter Freund!«, rief sie. »Kommt gleich zurück!« (Paolas Großvater lebte in einem Dorf hier in der Nähe. Als Kind hat sie immer ihre Sommerferien hier verbracht und kennt deshalb viele Leute.)
Nach einer Viertelstunde wurde ich unruhig. Der Kajakfahrer kam nicht zurück.
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