Das Beste aus meinem Leben
Wilde Fantasien stiegen auf: Luis ertrunken, Luis mit Kajak an den Felsen zerschellt, Luis hilflos am Strand umherirrend, Luis allein in der Macchia hinterm Strand, Luis von Schlangen gebissen, Luis von der Buntstiftanspitzerbande entführt, Luis in den Händen der Mafia.
»Paola!«, rief ich. »Sieh doch mal nach!«
Paola warf den Motor des Schlauchbootes an, fuhr um den nächsten Felsen – und ward nicht mehr gesehen. Ich saß allein am winzigen Strand, umgeben von steilen Felsen. Noch wildere Fantasien: Paola mit Schlauchboot gesunken, Paola verzweifelt auf der Suche nach Luis, Paola von Kajakfahrer entführt, Paola in den Händen des Kajakfahrers, die Hände gleiten über ihren Rücken, er hält sie umarmt, flüstert »Amore!«, Paola hat sich in den Kajakfahrer verliebt, Paola will mich verlassen…
Rasend warf ich mich ins Meer und kraulte zur Nachbarbucht.
Ich musste lange schwimmen, stieg schwer atmend an den Strand. Da lag unser Boot. Paola lag daneben. Neben ihr lag wiederum der Kajakfahrer. Luis spielte in der Nähe mit einigen Kindern.
»Was ist los?!«, schnaufte ich und schüttelte mir Meerwasser aus den Ohren.
»He, da bist du ja, Liebling! Ich wollte dich gerade holen!«, rief Paola. »Das ist Giovanni«, sagte sie, mir den Kajakfahrer vorstellend. »Luis hat ein paar Kinder getroffen, er hat sich geweigert, mit Giovanni zurückzupaddeln. Giovanni wollte ihn nicht mit den Kindern allein lassen und ist deshalb netterweise hier geblieben, bis ich kam.«
»Grazie, Giovanni!«, sagte ich, ließ mich in den Sand fallen, versuchte, mich zu beruhigen, und dachte: »Immer laufe oder schwimme ich jemand hinterher, Mutter, Sohn, Frau. Wie soll das weitergehen?«
In der folgenden Nacht träumte ich, Luis sei groß, habe Karriere gemacht, sei Vorstandschef. Er befand sich im Traum in einer wichtigen Sitzung – da wurde die Tür aufgerissen. In der Tür stand ich, alt und schwitzend. Und rief: »Hier bist du! Ich habe dich überall gesucht!«
Der Feuertopf
V on chinesischer Küche weiß ich nichts, außer dass die Chinesen Gerichte nummerieren, wie man in jedem chinesischen Restaurant sehen kann. Oder sie geben ihnen schöne Namen, »Platte des siebenfachen Morgenglücks« oder so. Manchmal, wenn zwei Chinesen zusammen sitzen, kann man den einen vielleicht schwärmen hören: »Meine Lieblingsspeise ist immer noch die 153, aber nur so, wie meine Mutter sie kochte.« Und den anderen vernimmt man möglicherweise so: »Manchmal, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, bereite ich mir schnell eine ›Platte des siebenfachen Morgenglücks‹, ganz simpel und ohne allen Schnickschnack, nur pure ›Platte des siebenfachen Morgenglücks‹. Ich liebe einfache Gerichte.«
Im übrigen gehört es zum Standardwissen auch dessen, der von chinesischer Küche nichts weiß, dass die chinesische Küche in Deutschland mit wahrer chinesischer Küche nichts zu tun hat.
Kürzlich waren wir nun bei dem Sinologen T. zum Essen eingeladen. T. hatte zwei chinesische Köche gebeten, für ihn zu kochen. Die Köche waren morgens gekommen und hatten Brühe zubereitet, zwei Woks voll. Die standen nun, abends um acht, auf dem Tisch. Man musste Drahtnetze mit Gamberi, Fisch, Fleisch, Pilzen oder Eierstich hineinhängen, ähnlich wie beim Fondue.
Als ich mein Netz zum erstenmal aus der Brühe zog, fand ich darin zehn kleine rote Schoten. Sie erinnerten mich an Spaghetti arrabiata , die Paola einmal mit drei solcher Schötlein zubereitet hatte. Eine von ihnen verzehrte ich damals aus Versehen mit. Danach bekam ich eine Art Mundschleimhautentzündung.
Diesmal legte ich die Schoten vorsichtig beiseite und aß. In den Sekunden danach spürte ich, wie sich mein Mundinneres in eine Feuerhölle verwandelte. Ich schluckte rasch. Das war nun ein Gefühl, als brenne sich das Geschluckte auf senkrechtem Wege durch den Körper, durch den Sitz, direkt in den Boden und ins Erdinnere, hin zu seinesgleichem, dem flüssig-glühenden Globuskern aus geschmolzenem Stein.
Habe ich doch eine Schote erwischt?, dachte ich. Oder zwei? Oder zwanzig? Ich sah Paola an, die neben mir saß. Ihre Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden, auf ihrer Stirn schimmerten Schweißperlen. Ihre Lippen formten sich zu einem O, durch das sie scharf Luft einzog.
»Ist es zu scharf?«, fragte T. besorgt.
»Ach, ef geht fon«, flüsterte ich.
T. warf Hände voll Feldsalat in die Woks. Das werde die Schärfe mildern, rief er.
Wir aßen weiter. Mir gegenüber saß meine
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