Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
Haushaltshilfen. Und ich steckte irgendwo dazwischen; ich besuchte zusammen mit Julia teure Privatschulen und wohnte mit meiner Mutter in der Remise. Ich hatte mich schon ziemlich früh entschieden, zu welcher Seite ich gehören wollte. Mit den Lucias und Curtises dieser Welt würde ich immer mehr gemeinsam haben als mit den St. Clairs.
Als wir uns zum Abschied umarmten, glaubte ich, eine Träne in Curtis’ Augenwinkel schimmern zu sehen. Dabei konnte ihn doch sonst nichts erschüttern. Ach du lieber Himmel , dachte ich. Was für ein sentimentaler Tag.
»Bis zum nächsten Mal, Annie«, sagte er mit belegter Stimme und hob die Hand zum Gruß, als ich das Wagenfenster hinunterkurbelte und die Scheinwerfer einschaltete.
Nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt , dachte ich, ergriff aber noch einmal seine große Hand und lächelte, bevor ich Gas gab und zu meinem winzigen Apartment im Mission District zurückfuhr. Doch noch im kühlen Dämmerlicht des Wagens, während ich die ausgestorbenen Straßen von Pacific Heights hinter mir ließ und durch die hässlichen Neubausiedlungen in Western Addition in das noch immer belebte Ausgehviertel des Mission District kam und das anschwellende Orchester der Stadt schwach zu mir hereindrang, musste ich mir eingestehen, dass es wohl auch diesmal kein Abschied für immer gewesen war. Ein zweites Mal würden mich die St. Clairs nicht so einfach ziehen lassen.
2 – Julia
In den Wochen, bevor ich von New York wieder zu meinen Eltern nach San Francisco zog, brauchte ich zum allerersten Mal in meinem Erwachsenenleben einen Wecker, um aus dem Bett zu kommen. Insgeheim war ich immer stolz darauf gewesen, dass mir kein schrilles Klingeln, ja nicht einmal sanfte klassische Musik den neuen Tag ankündigen mussten. Mein Körper spürte einfach, wann es so weit war. Ganz egal, wo auf der Welt ich gerade war, ich schlug um Punkt 6.45 Uhr Ortszeit die Augen auf, ging im Kopf schon all die Dinge durch, die ich mir für den Tag vorgenommen hatte, und sehnte mir mit knurrendem Magen mein Frühstück herbei, das für gewöhnlich aus frisch geschnittenem Obst, griechischem Joghurt, einem Schokoladencroissant und grünem Tee bestand. In den Wochen vor meiner Rückkehr nach San Francisco wachte ich jedoch zu meiner Beschämung Morgen für Morgen später auf, bis ich schließlich klein beigab und die Weckfunktion meines Smartphones aktivierte. Doch sogar mit der blechernen Melodie im Ohr blieb ich jeden Tag noch ein paar Minuten liegen. Der Stolz auf meinen perfekt funktionierenden Körper war dahin.
In meinem alten Kinderzimmer war es noch viel schwerer, nicht in den düsteren Gedanken zu versinken, die mich immer wieder zu überwältigen drohten. So fühlt sich also eine Depression an , dachte ich und schürzte bei diesem Wort unangenehm berührt die Lippen. Mein Körper reagierte auf diesen Gedanken, indem er sich zusammenrollte, bis meine Knie die Brust berührten und meine Hüfte sich in die Matratze grub. Ich hatte bisher immer mitfühlend zugehört, wenn meine Freundinnen über Depressionen, Schlafstörungen und Migräneattacken klagten, aber insgeheim war ich doch überzeugt gewesen, dass solche Stimmungsschwankungen eine Entscheidungssache waren. Jeder konnte frei wählen, ob er glücklich sein wollte. Und wenn man sich dafür entschied, unglücklich zu sein, war das nicht schlicht und einfach aus Faulheit? Das betraf natürlich nur meinen Freundeskreis; alles schlanke, hübsche und gebildete Frauen, deren Eltern immer noch unsere ganze Clique in schicke Restaurants ausführten, wenn sie uns in New York besuchten. Wie konnten wir uns das Recht herausnehmen, in Depressionen zu versinken? Jeder ist selbst dafür verantwortlich, was er erlebt , pflegte mein Lieblingsprofessor in Stanford in seinen BWL-Vorlesungen zu sagen.
Doch diese Antriebslosigkeit – dieses Gefühl, einfach nicht die Kraft zum Aufstehen zu haben und einen weiteren unendlich langweiligen Tag über so zu tun, als ginge es mir gut, obwohl das Gegenteil der Fall war – hatte ich nicht selbst gewählt. Gereizt verscheuchte ich den Gedanken. Entspann dich und denk einfach an nichts , befahl ich mir und rollte auf den Rücken, um mich auszustrecken. Eigentlich glaubte ich nicht an solche Übungen zum Erlangen des Seelenfriedens, aber mein Vertrauen in Disziplin hatte ich trotz allem, was geschehen war, noch nicht aufgegeben. Ich starrte auf den sich langsam drehenden Ventilator an der Decke. Die ganze Woche lang hatte
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