Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
zu sein und ihren Tod zu verarbeiten, brauchte ich keinen Therapeuten. Als ich einsehen musste, dass ich ohne ihre Rezepte die Spezialitäten meiner Mutter niemals so hinbekommen würde wie sie, gab ich ihnen einen modernen Touch. Diese Kreationen brachten mich meiner Mutter näher, und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, noch nie so weit von ihr entfernt gewesen zu sein. Ich hatte keine Familie. Meinen Vater hatte ich nie gekannt, Geschwister gab es nicht, und selbst die Cousine, bei der meine Mutter damals gewohnt hatte, war vor einiger Zeit aus South San Francisco zurück nach Ecuador gezogen. Ich dachte, wenn ich die Frucht-Baisers meiner Mutter noch einmal kosten könnte, würde ich mich vielleicht weniger allein fühlen – zumindest bis die zwei, drei Happen aufgegessen waren.
Auf dem Regal neben dem Küchenherd standen noch ein paar Kochbücher – Kochgenuss , Das Geheimnis der französischen Kochkunst –, aber von dem Backbuch war weit und breit keine Spur. Ich öffnete alle Schubladen und Schränke in der Küche und schaute sogar in den Kühlschrank. Mit einem Seufzen lehnte ich mich an die geflieste Arbeitsplatte und nahm meinen ganzen Mut zusammen, bevor ich über den Flur in das Schlafzimmer meiner Mutter ging.
Das weiß bezogene Bett war säuberlich aufgeschüttelt und geglättet, als könne sie jeden Augenblick von einem harten Arbeitstag nach Hause kommen und sich auf einem frisch gemachten Bett ausruhen wollen. Der Schrank war leer. Nach der Beerdigung hatte ich ein paar Kleidungsstücke meiner Mutter für mich zusammengepackt und Lolly gesagt, dass sie alles andere an ein Hilfswerk ihrer Wahl spenden könne. Die Nachttischchen waren ebenfalls leer. Ich spähte gerade unter das Bett, als ich in der Küche Wasser rauschen hörte.
»Hallo?«, rief ich und ging wieder in die Küche hinüber.
Vor der Spüle stand Curtis und füllte sich ein Glas mit Wasser. Curtis war der langjährige Chauffeur, Hausmeister und Laufbursche der St. Clairs – was auch immer man brauchte, auf den großen, schweigsamen Curtis war immer Verlass. Er war sehr gealtert, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte. Er musste jetzt über fünfzig sein. Seine gerötete Stirn war von tiefen Falten durchzogen, seine Augen waren dunkler und eingesunkener, als ich sie in Erinnerung hatte, und seine braunen Haare hatten sich fast vollständig grau verfärbt. Mom hätte inzwischen sicher lich auch schon einige graue Haare, wenn sie über das reife Alter von 34 Jahren hinaus gelebt hätte. Bevor ich noch darüber nachdenken konnte, hatte ich Curtis auch schon die Arme um den Hals geschlungen und mein Gesicht in seiner starken Brust vergraben.
»Annie.« Er seufzte und tätschelte mir unbeholfen den Rücken. »Ich dachte, ich hätte jemanden kommen sehen, aber dann habe ich es doch für ein Hirngespinst gehalten. Du hast mir einen Mordsschreck eingejagt.«
Ich trat einen Schritt zurück. »Ich bin’s nur, Curtis«, sagte ich und wischte mir über die Augen. »Kein Küchengeist aus der Vergangenheit.«
Curtis zuckte verlegen die Schultern. »Was hat dich denn wieder zu den St. Clairs verschlagen, nach so langer Zeit?«
»Ich habe Lolly und ihre Leute mit Süßem versorgt, wie in den guten alten Zeiten. Und da dachte ich, wenn ich schon mal hier bin, kann ich bei der Gelegenheit auch gleich nach Moms Backbuch schauen. Du hast es nicht zufällig irgendwo gesehen? Ein Heft mit schwarzem Ledereinband, das sich bemerkenswert gut versteckt?«
Curtis schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.«
»Macht nichts. Es gibt Schlimmeres.« Noch während ich das sagte, merkte ich, wie enttäuscht ich war. In diesem Moment wurde mir erst richtig bewusst, warum ich zugestimmt hatte, Cupcakes für die Party der St. Clairs zu liefern: Ich hatte gehofft, ja geradezu erwartet, das Buch zu finden.
Curtis begleitete mich zu Beccas Auto. Irgendwie war ich froh, ihn an meiner Seite zu haben, als ich das Anwesen der St. Clairs verließ. Es lenkte mich für einen Augenblick von den quälenden Gefühlen ab, die die vergangenen Stunden in mir ausgelöst hatten. Ich hatte an dem Abend einige alte Bekannte wiedergetroffen, aber die Begegnung mit Curtis war mir die liebste von allen. Schließlich war er einer von uns. Oder genauer gesagt, ich hatte mich immer als eine von ihnen gefühlt – den Bediensteten. Da waren die St. Clairs – Lolly und Tad und Julia. Und da waren die Bediensteten – meine Mom und Curtis und ein kleines Heer weiterer
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