Das beste Rezept meines Lebens: Roman (German Edition)
Lebensglück gearbeitet hatte, fühlte mich plötzlich verfolgt, ja gelähmt vor Traurigkeit. Ich konnte sie einfach nicht abschütteln. Die Sache mit dem Cupcake-Café war doch dazu gedacht gewesen, die Vergangenheit vergessen zu machen – und zwar sowohl die lange zurückliegende wie auch die jüngere – und mir neuen Antrieb zu geben. Die Motivation, beharrlich einen Fuß vor den anderen zu setzen, bis diese Tiefphase vorbei wäre. Und was tat Annie Quintana? Sie stieß mich wieder mitten hinein.
Das war wirklich egoistisch von ihr. Und undankbar. Mir gefiel das Gefühl, sie zu brauchen, nicht, aber ich hatte sie tatsächlich geradezu angefleht , mein Geld und meine Erfahrung anzunehmen, um endlich ihre Traumkarriere zu starten – zumindest ging ich davon aus, dass ein eigenes Café ihr größter Traum war. Und nur wegen eines dummen Missverständnisses, das zehn Jahre zurücklag, hatte sie Nein gesagt! Ich ließ die Geschehnisse, an denen unsere Freundschaft damals zerbrochen war, noch einmal Revue passieren. Zum Schluss, kurz bevor wir aufs College gewechselt sind, hatten wir kaum noch ein Wort miteinander gewechselt. Und dann war Lucia gestorben; danach hatte völlige Funkstille geherrscht.
Vielleicht hat Annies Wut etwas mit dem Tod ihrer Mutter zu tun? Bei diesem Gedanken setzte ich mich erschrocken auf. Im Herbst, nachdem ich zum Studium nach Stanford gegangen war und Annie nach Berkeley – nein, Moment, zu der Zeit stand Annies Zulassung für die Uni ja noch auf der Kippe, und sie wohnte weiter in der Remise, während sie als Kellnerin jobbte und Seminare am City College besuchte –, war meine Mutter eines Morgens in die Küche gegangen und hatte Lucia gefunden, die bewusstlos auf dem Boden lag. Sie rief sofort den Notarzt, fuhr mit ins Krankenhaus, trieb die besten Ärzte auf und zahlte später für alle Behandlungen. Doch trotz all ihrer Bemühungen fiel Lucia ins Koma, bevor Annie oder ich es überhaupt ins Krankenhaus schafften. Sie starb wenige Tage später, ohne ein einziges Mal aufgewacht zu sein. Ihr Tod warf mich völlig aus der Bahn; ich ging wochenlang nicht zur Uni und büffelte dann in einer Art Dauerbetäubung für die Abschlussprüfungen. Annie konnte eigentlich von Glück sagen, dass sie noch nicht angefangen hatte zu studieren und ihre Trauer für sich zu Hause verarbeiten konnte.
Bei der Beerdigung hatten Annie und ich uns zunächst voneinander ferngehalten, aber ich erinnere mich, dass wir uns irgendwann während des Gottesdienstes plötzlich weinend in den Armen lagen. Und dann – nichts. Einige Wochen später begann ihr Studium, und damit verschwand sie praktisch von der Bildfläche. Gibt sie etwa unserer Familie die Schuld an Lucias Tod? Mit ihrer abweisenden Haltung hatte sie in den letzten zehn Jahren vor allem meine Mutter verletzt. Schließlich hatte Annie fast ihr ganzes Leben lang bei uns gewohnt. Sie war wie eine zweite Tochter für meine Mutter gewesen. Oder zumindest wie eine Nichte.
Mein Handy, das auf meinem Schoß lag, riss mich mit einem Klingeln aus meinen Gedanken. Ich nahm den Anruf an, ohne auf das Display zu schauen. Einen Augenblick lang hoffte ich, es sei Annie, die es sich anders überlegt hatte.
»Hallo?«
»Mist. Ich muss mich verwählt haben. Ich wollte eigentlich die Heilige Claire sprechen.«
Es war Jake Logan, mit einem alten Witz, der auf meinen Nachnamen anspielte. Trotz meiner trüben Stimmung musste ich lachen. »Sie können ruhig Miss Julia zu mir sagen«, antwortete ich leichthin. »Was verschafft mir die Ehre?« Jake und ich telefonierten nur selten miteinander, seit wir uns im ersten Jahr an der Uni einvernehmlich getrennt hatten, aber wir waren uns im Laufe der Jahre immer mal wieder bei Partys ehemaliger Mitschüler über den Weg gelaufen und pflegten eine entspannte, unkomplizierte Freundschaft.
»Ach so, du bist es ja tatsächlich«, sagte er. Ich sah sein schelmisches Grinsen förmlich vor mir. »Gut! Ich bin gerade aufgewacht und dachte schon, ich hätte die falsche Nummer erwischt.«
»Du bist gerade erst aufgestanden? Es ist zehn Uhr!«
»Bitte keine Moralpredigt, okay? Ich rufe nämlich an, um dir ein attraktives Angebot zu unterbreiten. Wie ich sehe, scheint heute phantastisch die Sonne, was an einem Junitag in San Francisco nun wirklich eine Zumutung ist, wie ich finde.«
»Richtig«, sagte ich und ging auf seinen übertrieben sachlichen Ton ein. »Also, ich höre?«
»Diese Frechheit sollten wir nicht ungestraft
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