Das Bett
hatte. Sie bückten sich, um ihn vorsichtig zu befreien, und waren dann, vor der sitzenden Statue Walthers von der Vogelweide stehend, bemüht, den Hut meiner Tante wieder richtig auf den Kopf zu setzen.
Der Brunnen, der in seiner Unversehrtheit vor der Ruine des Schlosses wirkte, als sei er das mit Frakturschrift bedruckte Pfändungssiegel, das ein himmlischer Gerichtsvollzieher dem Platz aufgedrückt hatte, nahm Stephan und meine Tante unter seine |68| Figuren auf, und als ich einen Augenblick nicht hinsah, waren die beiden tatsächlich verschwunden; dabei waren sie einfach nur um den Brunnen herumgegangen.
Wie nicht anders zu erwarten, war die Schloßkapelle abgeschlossen, aber sie war wenigstens nicht wie das Parterre des Corps de logis hinter einer Bretterverschalung verborgen. Man konnte vielmehr herantreten und vor der verschlossenen Tür stehen, die ein großes Schlüsselloch hatte. Der Kirchenraum war dämmrig, die hoch oben gelegenen Fenster ließen an diesem dunklen Tag wenig Licht hereinfallen. Es herrschte Unordnung, Bretter lagen umher, Bauschutt bedeckte den Boden, und weit hinten, auf dem Hochaltar, stand ein Blecheimer neben der aufgerissenen Tabernakeltür, die ein geheimnisloses kahles Schrankinneres nicht mehr verbarg. Der süßliche Trümmergeruch, der aus dem hohen Raum durch das Schlüsselloch nach außen drang, zeigte an, daß sich auch dieser Teil des Schlosses, den das Feuer offenbar nicht mit seiner ganzen Gewalt erreicht hatte, in Verwesung befand, und tatsächlich bedarf es viel weniger, um geweihte Räume zu zerstören als profane. Denn wenn auch die Ehrfurcht der Menschen, die sich in den geweihten Räumen aufhalten und mit den geweihten Gegenständen umgehen, diese Räume und Gegenstände immer wieder neu weiht, so fügt ihnen die Ehrfurchtslosigkeit doch um so tieferen Schaden zu. Ich erlebte, daß die Heiligkeit eines Raumes empfindlich war wie der Staub des Schmetterlingsflügels, und ich vermutete, jetzt den Grund dafür erfahren zu haben, daß der Tempel zu Jerusalem nie wieder aufgebaut werden konnte.
Als wir uns umdrehten, sahen wir, daß das Auto langsam auf uns zufuhr. Stephan und meine Tante saßen darin. Als wir einstiegen, sagte Stephan, der sich die Hände rieb: »Kalt is«, und ich bemerkte, daß meine Tante ihre sicher ebenso kalten Hände halb geöffnet in ihrem Schoß liegen hatte und vor sich hinstarrte. »Na endlich habt ihr genug«, sagte meine Mutter, »bei fünf Grad unter Null hört bei mir der Kunstgenuß auf.«
Es muß die häufige Wiederholung des Wortes »Bischof« aus dem Munde meines Vaters gewesen sein, als er mir die Anlage |69| der Residenz erklärte, die mir in dem halbwachen Zustand, in den ich verfiel, sowie wir wieder alle im Auto saßen, den Bischof unserer Diözese und die phantastischen Bischöfe des Barock, die einmal in dieser Ruine gelebt hatten, ineinander verschmelzen ließ. Vom Bischof Ludwig Melzer wurde bei uns immer wieder gesprochen. Meine Mutter sah ihn gelegentlich und erfreute sich seines Vertrauens in den Angelegenheiten des schwierigen, eichhörnchenhaften Monsignore. Ihn mit der Würzburger Residenz in Zusammenhang zu bringen war allerdings nur einem Kind möglich, das durch den Gleichklang seines Titels mit dem der priesterlichen Grandseigneurs der alten Tage auch zu einer persönlichen Gleichsetzung verführt wurde. Dabei befand sich dieses Kind eigentlich in Übereinstimmung mit der Kirche, die ihre Lehre von der Natur des Bischofsamtes nicht revidiert hatte und der die alten feudalen Würzburger Bischöfe genausoviel galten wie der moderne Bischof Ludwig Melzer. Und dennoch: Niemandem gelingt es, mehr zu sein, als er selbst zu sein glaubt. Und wenn die alten Würzburger Bischöfe von sich in erster Linie annahmen, daß sie Fürsten seien, teilte Bischof Ludwig diese Überzeugung für seine Person sicher nicht. Aber ob er die kirchliche Überzeugung teilte, daß er Nachfolger der Apostel sei, ist nicht ebenso sicher. Daß er an seinen fürstlichen Qualitäten zweifelte, entsprang der Klugheit. Meine Mutter bezeichnete ihn gern als den Sohn eines Besenbinders oder Häuslers. Mit diesen romantischen Benennungen, die schon in der Jugend meiner Mutter kaum mehr mit Realität zu füllen gewesen waren, drückte sie die in meinen Ohren bereits ebenso romantische Tatsache aus, daß er der Sohn eines Lokomotivführers war. Sein beträchtlicher Stolz bezog sich denn auch vor allem auf seinen Aufstieg: Er blickte gleichsam von den
Weitere Kostenlose Bücher