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Das Bett

Titel: Das Bett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Mosebach
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Stephan mit seinem System zwar nicht zu scheitern, aber auch keine Lorbeeren verdienen zu können.
    |87| Stephan war ihm freilich wortkarg entgegengetreten, Dr. Tiroler hatte weiterhin unangenehm berührt Stephans Körpergröße zur Kenntnis genommen und das verwöhnte Desinteresse, mit dem er sich zwischen Florence’ Herrlichkeiten bewegte. »Ich muß künftig vermeiden, Patienten in ihren Wohnungen kennenzulernen«, sagte sich Tiroler und mußte kurz darauf erneut das peinigende Gefühl der Ungewißheit bekämpfen, als Stephan nach einiger Zeit völlig umgezogen wieder ins Zimmer kam, eine Tatsache, die Tiroler gewöhnlich aufatmend als ersten Hinweis auf eine zwangsneurotische Symptomatik vermerkt hätte, die hier aber auch als Ausdruck der Umgangsformen in Stephans gesellschaftlicher Sphäre gewertet werden konnte.
    Tiroler hatte bei der Begrüßung festgestellt, daß Florence etwas größer war als er. Bei ihrem Anblick dachte er, daß sie wohl das eleganteste Kleid trage, das er je gesehen habe, bis ihm plötzlich klar wurde, daß dies überhaupt das erste Frauenkleid war, das er wirklich wahrnahm.
    Aber lief Anni Tiroler nicht auch oft genug in einem engen schwarzen Kleid herum? Es fiel ihm nicht einmal ein, was an Annis Kleidern so reizlos gewesen sein könnte. Oder profitierte ein Kleid von Florence von dem schönen Körper, den es verhüllte? Auch diesen Gedanken schloß Tiroler aus. Florence Gutmann ist eine alte Frau, dachte er diagnostisch kühl, und er war froh, wieder auf eine Gelegenheit gestoßen zu sein, seine ureigene Terminologie anzuwenden, denn er nannte niemals wirkliche Greisinnen »alte Frauen«, sondern die Frauen, die zwischen vierzig und fünfzig waren und anfingen, sich mit dem Altwerden zu beschäftigen.
    Mit dieser Beschäftigung trat eine Fülle von Problemen auf, die in seiner Praxis eine Rolle spielten. Als ihm eingefallen war, welcher Kategorie Florence angehörte, spürte er zum erstenmal, seit er mit ihr zusammen war, festen Boden unter den Füßen, und er war sich so sicher, daß sie ihm in kürzester Zeit die altgewohnten Stichwörter ihres Leidens geben würde, daß er glaubte, auf ihr Eintreffen nicht einmal hoffen zu müssen.
    Florence tat aber nichts dergleichen. Die Unterhaltung blieb |88| höflich und allgemein und wurde nur unterbrochen, wenn sie sich vorbeugte, mit ihrer schmalen Hand die Teekanne nahm, die so schwer war, daß ihre Fingerknöchel weiß wurden, und dennoch Tirolers Tasse wieder vollschenkte, ohne daß ihre Hand unter dem Gewicht zitterte.
    Tiroler begann sich beim Klang ihrer Stimme wohlzufühlen. Er sprach nur, um sie zum Weitersprechen zu bewegen, damit er endlich herausbekam, wie ihr Brustkorb dies eigentümliche Summen erzeugte und welche Wirkung diese tonlose Schwingung der Atemluft in ihm genau hervorrief. Er widersprach Florence zu seinem eigenen Erstaunen nicht ein einziges Mal, obwohl er das Gefühl hatte, daß sie einen Widerspruch aus dem Mund eines berühmten Gelehrten durchaus hätte hinnehmen wollen, ja, als ob er durch seine akademischen Grade in ihren Augen im wesentlichen die Erlaubnis erworben hätte, ihr in erträglichen Formen zu widersprechen. Statt dessen quälte er seinen Geist nach Formulierungen, die ihm helfen sollten, alles, was Florence ihm sagte, neu und interessant zu wiederholen, so daß Florence daran Gefallen fand und zugleich durch sein wortreiches Einverständnis noch ein Weg für sie offenblieb, weiterzusprechen: Er trieb auf einmal die Selbstverleugnung so weit, daß er kleine Mißverständnisse erfand, um ihr die Aufklärung derselben zu ermöglichen, die ihm dann so hurtig einleuchtete, daß die kleine Verzögerung den Ruf seines Verstandes bei ihr nicht beeinträchtigte. »Ich weiß nicht, ob Sie ahnen, warum uns – Willy und mir – Ihre Nachbarschaft so besonders angenehm ist?« fragte Florence schließlich.
    Da sie die Antwort auf diese Frage nun schon seit einer Stunde vorbereitet hatte, geriet Tiroler in Verlegenheit – wenn er jetzt noch »nein« sagte, erschien er wirklich sehr begriffsstutzig, wenn er »ja« sagte, dann wäre wahrscheinlich endlich die Aufgabe an ihn gefallen, ein längeres Referat zu halten. Plötzlich kam es ihm vor, als ob jede Sekunde, in der er nicht dieses sonore Summen, das ihre Stimme begleitete, hörte, von seinem Leben abgezogen würde. Und da er seit kurzem wußte, daß er nicht mehr lange leben werde, überkam ihn bei dieser |89| Vorstellung große Angst. Er antwortete

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