Das Bienenmaedchen
und später am Tag die Strecke wieder zurückfuhr. Einmal hielten sie die junge Frau an und überprüften ihre Papiere. Sie fanden keinen Grund, ihre Geschichte anzuzweifeln – dass sie zu ihrem Arbeitsplatz fuhr und die Kinder eines Rechtsanwalts in einer sehr angesehenen Kanzlei unterrichtete –, und ließen sie gehen. Als Beatrice in der Nacht, bevor der Überfall auf das Waffenlager durchgeführt werden sollte, nach England zurückgeflogen wurde, fragte sie sich, ob diesen Männer nach der Explosion auffallen würde, dass Juliette Rameau verschwunden war, und ob sie die von ihr erwähnte Anwaltskanzlei aufsuchen würden. Dort würden sie dann feststellen, dass Julien Defours, dessen Name immer noch auf der Tür stand, im letzten Jahr als kinderloser Witwer verstorben war.
Der zweite Besuch fiel sehr viel kürzer aus. Sie musste die überlebenden Mitglieder eines Netzwerks treffen, das unterwandert worden war, und eine Liste mit codierten Namen abholen. Funkkontakt galt als unsicher, sodass der einzige Weg, die Liste aus Frankreich herauszubekommen, darin bestand, sie Beatrice zu übergeben. Diesmal hatte sie falsche Papiere bei sich, die auf den Namen einer Bauerntochter, Elise Fontaine, ausgestellt waren.
Zwischen den Einsätzen wohnte sie in Dinahs Apartment und fuhr nur zu kurzen Besuchen nach Sussex. Da von ihr oft erwartet wurde, dass sie für Besprechungen vor und nach Einsätzen in London war oder einmal zu einem weiteren Training geschickt wurde, konnte sie nie lange bei Angie und bei ihrem Sohn bleiben. Es war eine merkwürdige Art des Daseins – ohne jegliche geregelten Abläufe oder ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft. Alles drehte sich um das Leben im Hier und Jetzt.
Abends traf sie sich manchmal mit ein paar von den anderen Agenten. Wenn sie zum Tanzen oder zum Essen ausging, trug sie oft das Kleid aus Paris und ignorierte die neidischen Blicke der anderen Frauen. Sie wussten ja nicht, dass Beatrice ihr Leben aufs Spiel setzte. Außerdem hatte sie keine Lust, abgetragene Sachen anzuziehen, nur um ihnen zu gefallen.
Bei diesen Gelegenheiten gab es viel Spaß, und es wurde oft gelacht. Meist begann eine Gruppe von Agenten den Abend in einem ihrer Lieblingsrestaurants. Nach dem Essen besuchten sie den einen oder anderen Nachtclub, und manchmal kamen sie erst in den frühen Morgenstunden nach Hause. Sie waren eine ständig wechselnde Gesellschaft, deren Mitglieder sich normalerweise auf Englisch unterhielten und in der jeder mit dem Namen angesprochen wurde, den er von sich aus genannt hatte. Hin und wieder sah man jemanden ein paar Wochen lang regelmäßig, dann verschwand er einfach, manchmal, ohne sich zu verabschieden. Wenn er oder sie irgendwann wieder auftauchten, wurden sie warmherzig begrüßt, aber niemand fragte, wo sie gewesen waren und was sie gemacht hatten. Beatrice hielt ständig Ausschau nach Rafe, doch sie sah ihn nie, und es wurde nicht gern gesehen, wenn man Fragen stellte.
Geneviève, die stämmige junge Frau, die sie in Schottland getroffen hatte, erschien eine Weile regelmäßig. Beatrice wusste nur wenig über sie, eigentlich nur, dass ihre Familie aus Frankreich kam und von dort geflohen war. Geneviève war eine angenehme Kameradin, die fließend Englisch sprach und perfekt Stimmen nachahmen konnte. Die anderen bogen sich vor Lachen, wenn sie Hitler, Churchill oder »Lord Haw-Haw« – Hitlers englische Stimme des deutschen Radiopropagandaprogramms mit ihrem Oberschichtakzent – nachmachte.
Doch dann, an einem Abend Anfang April, nahm sie Beatrice beiseite und sagte: »Morgen bin ich wieder dran. Wünsch mir Glück! Ich bin furchtbar aufgeregt.«
»Oh, Genny«, seufzte Beatrice und umarmte sie. »Pass auf dich auf, Liebes!«
Es war das letzte Mal, dass sie Geneviève sah.
Ihre Freundinnen und Freunde sprachen nur sehr selten über ihr Privatleben, aber bisweilen bekam sie winzige Informationshäppchen heraus. Auf der anderen Seite wussten offenbar einige, dass sie ein Kind hatte, obwohl sie darauf geachtet hatte, niemandem davon zu erzählen, außer natürlich Vera Atkins. Einmal erkundigte sich einer der Agenten nach ihrem Jungen, und sie antwortete überrascht: »Danke der Nachfrage! Ihm geht’s sehr gut.« Fast erwartete sie, dass er die Frage aussprechen würde, die sie sich selbst immerzu stellte: Wie hielt sie es nur aus, ihr Leben zu riskieren, wenn sie einen Sohn hatte? Sie hatte sich im Stillen eine Antwort zurechtgelegt: Sie täte es für seine
Weitere Kostenlose Bücher