Das Bienenmaedchen
tauchte das Gefühl des Wiedererkennens erneut auf. Doch diesmal war es begleitet von der Empfindung, dass es richtig gewesen war hierherzukommen. Als sie sich eine Stunde später auf ihrer Pritsche in der Dachkammer ausstreckte, war sie sich sicher, dass sie vor lauter Nervosität nicht würde schlafen können. Aber als Lorraines strenges Geflüster sie aufweckte, schien nur ein Moment vergangen zu sein. Es war Zeit zum Aufbruch.
Rasch zog Beatrice die abgetragene marineblaue Kleidung an, die man ihr gegeben hatte, und sah noch einmal nach, ob ihre Papiere und das Geld in ihrer Handtasche waren.
»Dieu vous benisse«, murmelte Lorraine und küsste sie auf die Stirn.
»Et vous aussi«, antwortete Beatrice leise. Hoffentlich würde Gott auch Lorraine und Pierre beschützen!
Als Lorraine oben beschäftigt gewesen war, hatte Pierre ihr am Abend zuvor erzählt, dass die Nazis ihren erwachsenen Sohn, ihr einziges Kind, eingezogen und ins Elsass geschickt hatten, wo er in einer Fabrik arbeiten musste, die Granaten herstellte. Vor sechs Monaten hatten sie die Nachricht erhalten, dass er getötet worden war – bei einer Rauferei zwischen Betrunkenen, wie es hieß. Pierre glaubte nicht einen Augenblick an diese Erklärung. Raoul war ein sanfter Junge gewesen, keiner von dieser Sorte. Sein Tod hatte für sie den Ausschlag gegeben – sie hatten sich freiwillig bei der Resistance gemeldet.
Beatrice schob ihr Fahrrad vom Hof, stieg auf und fuhr schwankend den Weg entlang. Sie wusste, welche Strecke sie nehmen musste – sie hatte sich die Karte fest im Gedächtnis eingeprägt.
Nach ein paar Meilen hörte sie in einiger Entfernung hinter sich einen Fahrzeugmotor. Schnell stieg sie ab, schob das Fahrrad hinter eine Mauer und versteckte sich. Es war ein Auto, und als es vorüberfuhr, spähte sie hervor und sah vier Nazi-Soldaten. Es war ihre erste Begegnung mit dem Feind, und das erschütterte sie irgendwie. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie erholte sich rasch und machte sich wieder auf den Weg.
Die kleine Straße führte zu einer breiteren, die schließlich in eine Hauptverkehrsstraße mündete. Beatrice wusste, dass sie diese schnell wieder verlassen musste. Sie würde einen Weg nehmen, auf dem sie weniger leicht zu entdecken war. Die Sonne stieg höher. Manchmal sah Beatrice im Vorbeifahren Spuren der Besatzung: ein ausgebranntes Haus, einen erschossenen Hund in einem Bach. Einige der Menschen, an denen sie vorbeikam, waren freundlich und wünschten ihr einen guten Tag. Andere vermieden es, ihr ins Gesicht zu schauen. Sie hielt nie an, um sich zu unterhalten. Es gehörte zu ihrem Job, dass niemand sich an sie erinnerte.
»Du bist Juliette«, sagte sie sich vor. »Es ist vollkommen natürlich, dass du hier bist und nach Paris fährst, um ein paar Tage bei deiner Tante zu verbringen.«
Juliette zu sein war alles, was sie tun musste. Sie würden das Futter ihrer Jacke aufreißen müssen, um das kostbare Stück zusammengefaltete Seide zu finden, das sie aus London mitgebracht hatte – oder die kleine Pille, die sie nehmen sollte, falls sie in Gefangenschaft geraten und es nicht mehr aushalten würde.
Am Bahnhof stellte sie ihr Fahrrad ab. Als sie zum Schalter ging, um eine Hin- und Rückfahrkarte zu lösen, sah sie einen jungen deutschen Soldaten, der am Eingang zu den Bahnsteigen herumlungerte.
»Paris, bittet aller-retour, s’il vous platt«, sagte sie zu der Frau hinter der Glasscheibe und versuchte, selbstbewusst zu klingen. Doch ihre Finger zitterten, während sie in ihrem Geldbeutel nach Münzen suchte.
Als sie an dem Soldaten vorbeiging, dachte sie: Er sieht meine Angst . Aber er warf ihr nur einen gelangweilten Blick zu und ließ sie durch.
Im Zug erzählte eine ältere Dame mit einem Korb auf dem Schoß ununterbrochen von ihrer Tochter, die sie nun besuchte, weil diese ein Baby bekommen hatte, und Beatrice hörte ihr höflich zu. Tatsächlich beruhigte das Geplapper ihre Nerven. Die anderen um sie herum blieben ruhig und wachsam. Als zwei Gestapo-Offiziere den Gang entlangkamen und in alle Abteile schauten, verstand Beatrice, warum.
Sie verließ den Gare Saint-Lazare und zwang sich dazu, nicht in der Gegend herumzustarren, als ob sie nicht wüsste, was sie tun sollte. An einem Kiosk kaufte sie eine Zeitung. Da sie nicht in Eile war, machte sie sich zu Fuß auf den Weg zum Jardin du Luxembourg. Sie war erst ein Mal in Paris gewesen, als Mädchen von sieben oder acht, und erinnerte sich an
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