Das Bienenmaedchen
ihr Besuch bedeutete. Hübsch war sie, diese Lucy, mit ihrem honigfarbenen Haar, dem eigensinnigen Kinn und der sommersprossigen Stupsnase. Ihre Schönheit beruhte auf Charakter und Stärke, nicht auf Make-up. Sie freute sich darauf, Lucy wiederzusehen.
Wie viele dieser modernen jungen Frauen wirkte Lucy selbstsicher, aber sie hatte auch etwas Unerprobtes an sich – etwas Unsicheres, noch nicht Gebrochenes. Vielleicht musste es sich immer noch etwas seinen Weg nach draußen bahnen. Natürlich kam es häufiger vor, dass in Familien schlimme Dinge passierten – schreckliche Dinge –, und alle hielten den Mund und fanden sich damit ab. Nicht dieses Gerede darüber, wie das heutzutage üblich war. Trotzdem beneidete sie eigentlich die heutigen Eltern um die Nähe zu ihren Kindern.
Sie erinnerte sich daran, wie sie am Vortag aus ihrem Gartentor getreten war und einen Touristen und seine kleine Tochter gesehen hatte, die den Weg zum Klippenpfad hinaufgingen, und sah plötzlich sich selbst im Alter von neun oder zehn vor sich. Niemals hätte sie die Hand ihres Vaters in einer solch besitzergreifenden Weise gehalten wie dieses kleine Mädchen. Und für den Mann schien es vollkommen natürlich zu sein, seiner Tochter dies oder das geduldig zu erklären. Beatrice’ Eltern hatten meist mit ihr gesprochen, um ihr Anweisungen zu geben.
Sie atmete tief ein, um sich zu beruhigen, und war sich sicher, dass der Duft alter Rosen in der Luft lag. Seltsam, dass das Haus immer noch nach ihnen duftete. Rosen waren die Lieblingsblumen ihrer Mutter gewesen: Kletterrosen rund um das Haus und Schalen mit getrockneten Blütenblättern in jedem Zimmer. Vielleicht war der Duft in das Holz eingedrungen. Beatrice öffnete die Augen und war einen Augenblick lang verwirrt, weil das Zimmer nicht so aussah wie vor langer Zeit, als sie ein Kind gewesen war. Sie sah noch die Schäferin aus chinesischem Porzellan auf dem Kaminsims vor sich, die ordentlich auf dem Couchtisch aufgestapelten Bücher der französischen Bibliothek ihrer Mutter, den Spazierstock ihres Vaters neben dem Feuer, den großen Radioapparat dort, wo jetzt der Fernseher stand.
Vielleicht hätte sie niemals hierher zurückkommen, sondern nach dem Tod ihres Mannes in Paris bleiben sollen. Doch sie hatte das Haus nicht verkauft, nachdem ihr Vater es ihr hinterlassen hatte, dann war der langjährige Mieter ausgezogen, und es schien der richtige Zeitpunkt zu sein. Sie hatte sich einfach schrecklich danach gesehnt, an diesen Ort zurückzukehren, wo sie als junges Mädchen so glücklich gewesen war. Sie hatte gehofft, sie würde hier auch eine Art Frieden finden, aber das hatte sie nicht – nicht wirklich. Zu klar war sie sich der Ruine von Carlyon Manor bewusst, die hoch über der Stadt thronte, und sie erinnerte sich noch an so vieles. Man hatte sie gezwungen, Geheimnisse zu bewahren, und sie hatten in ihr geschwärt. Die meisten der darin verstrickten Menschen waren allerdings nicht mehr am Leben. Mit Ausnahme von Hetty Wincanton und Peter. Es gab keinen wirklichen Grund, wie ein Drache auf seinem Goldschatz zu sitzen.
Nun war diese junge Frau gekommen und wollte bestimmte Dinge wissen. Lucy verdiente das, obwohl es für sie beide schmerzhaft werden könnte. Beatrice lächelte freudlos. Einmal hatte sie versucht, etwas von ihrer Geschichte zu erzählen, nach dem Krieg. Aber damals war niemand an der Wahrheit interessiert gewesen. Sie hatten ihre Worte gegen sie verwendet. Und sie hatte gesehen, was mit einigen der anderen geschehen war, die ihre Meinung gesagt hatten – sie waren in den Zeitungen an den Pranger gestellt worden. Jetzt, nachdem so viel Zeit vergangen war, und alle tot waren, deren Ruf es zu schützen galt, gab es ein echtes Interesse daran, die Wahrheit aufzudecken. Und trotzdem war es nicht so einfach. Es war etwas Persönlicheres.
Es gab dunkle Orte in Beatrice’ Seele, in die sie nicht vordringen konnte – selbst jetzt nicht. Sie hatte Angst vor ihren eigenen Gefühlen. Aber die Wahrheit, Beatrice!, sagte sie zu sich selbst. Die Wahrheit war stets am besten. Die Zeit war ein Fluss, sagte der Dichter, und die Vergangenheit floss weiter in die Zukunft hinein. Ihre Vergangenheit staute sich in einem unbeweglichen Teich.
Sie drückte sich aus dem Sessel hoch und ging hinüber zum Fenster. Ihre Füße taten ihr so weh, als würden auch sie sich erinnern. Die Vögel hatten die Tränke verlassen, aber der unbekümmerte Klang ihres Zwitscherns war allgegenwärtig.
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