Das Bienenmaedchen
das ihr, wie sie glaubte, durch die schwierige Ehe ihrer Eltern vorenthalten worden war.
Natürlich sind die Dinge nicht genau so verlaufen, wie sie geplant waren. Im März 1938 ist Deutschland in Österreich einmarschiert, und die Familie war sich nicht sicher, ob Angie überhaupt nach Paris gehen sollte. Schließlich ging sie doch. Als Hitler aber dann das Sudetenland annektierte und Ende September Mr Chamberlain aus München zurückkehrte – und dabei ein Stück Papier schwenkte, von dem jeder wusste, dass es mehr wert war als das darauf geschriebene Versprechen –, wünschte sich ihre Familie, Angie wäre nicht nach Paris gereist.«
Beatrice verstummte für einen Moment, und Lucy soufflierte: »Und dann bist du ins Internat gekommen.«
»Nein, nicht sofort«, erwiderte Beatrice traurig. »Aber das hatte nichts mit Hitler zu tun. In den Sommerferien hatte mich meine Mutter überredet, bei einer Kinderparty im Tennisclub meine Hilfe anzubieten. Ein paar Wochen später wachte ich morgens mit Fieber und furchtbaren Kopfschmerzen auf. Am Abend konnte ich mich kaum noch bewegen und hatte überall Schmerzen. Der Doktor wurde gerufen, und nun war ich es, die ins Krankenhaus kam. Ich hatte mich bei irgendeinem Kind auf der Party mit Polio, also mit Kinderlähmung, angesteckt.«
»Kinderlähmung? Ist das nicht was Schlimmes?«
»Gott sei Dank kennt deine Generation Polio nicht mehr und die Angst, die schon allein durch das Wort hervorgerufen wurde.«
»Ich weiß, dass wir dagegen geimpft worden sind. Sie haben uns den Impfstoff auf Zuckerstückchen gegeben.«
»Aber erst nach dem Krieg. Heute ist Kinderlähmung in großen Teilen der Welt ausgerottet worden, aber damals war es ein Schreckgespenst.«
»Es ist ein Virus, oder?«
»Ja. Man konnte daran sterben, genauso wie an Diphterie, Tuberkulose und einer Menge anderer widerlicher Krankheiten. Ich weiß noch, dass meine Mutter während meiner Kindheit von Hygiene geradezu besessen war. Ich durfte nicht aus derselben Tasse trinken wie andere Kinder, ich musste mir vor dem Essen die Hände waschen, ich durfte auch nichts essen, was jemand anders angefasst hatte. Kinderlähmung konnte verheerende Folgen haben. Wenn der Erreger in das zentrale Nervensystem eindrang, kam es zu Lähmungen oder noch Schlimmerem. Ich hatte Glück, denn die Art, die ich hatte, verlief meist relativ glimpflich. Aber selbst nach zwei Wochen im Krankenhaus habe ich zu Hause noch drei Monate im Bett gelegen und war auch noch lange Zeit danach sehr schwach.«
»Deine Eltern haben dich vermutlich völlig abgeschottet.«
»Das stimmt. Rafe hat mir geschrieben und mir kleine Geschenke geschickt, aber die gesamten Sommerferien über durfte er mich nicht besuchen. Als das Schlimmste vorüber war, haben wir uns unterhalten: Er stand im Vorgarten und ich am Fenster meines Schlafzimmers, doch selbst das strengte mich an.«
»Keine Schule also.«
»Erst nach Weihnachten. Stattdessen blieb ich hier in diesem Haus, und ehrlich gesagt war ich froh darüber. Ich habe lange gebraucht, um mich langsam zu erholen, aber ich bin wieder gesund geworden.«
Lucy sah Beatrice an, wie sie kerzengerade vor ihr saß. Sie konnte sich gut vorstellen, dass ihre Entschlossenheit wesentlich zu ihrer Heilung beigetragen hatte.
Beatrice zog das alte Fotoalbum zu sich heran, das sie sich zuvor angeschaut hatten, und blätterte die Seiten um. Als sie die letzte Seite aufschlug, starrte sie eine Zeitlang darauf, und schob dann das Album zu Lucy hinüber. Es war ein Bild von Beatrice selbst. Sie posierte mit dem Rücken zur Kamera und blickte über die Schulter, sodass man den Rock ihres langen Kleides mit der kleinen durchsichtigen Schleppe sehen konnte.
»Du siehst wirklich hinreißend aus«, flüsterte Lucy.
»Ja, nicht?«, sagte Beatrice mit einem anrührenden Hauch von Stolz. »Das war an Weihnachten 1938 in Carlyon Manor. Davon werde ich dir morgen erzählen. Bei diesem Fest geriet etwas in Bewegung, das sich auf mein Leben viel verheerender auswirken sollte als jede Krankheit.«
Nachdem sie The Rowans verlassen hatte, spazierte Lucy den Klippenpfad hoch und nahm die Abbiegung zum Strand. Zweimal am Tag, dachte sie, wäscht die Flut alles fort, als ob es nie gewesen wäre. Aber als sie nun hier in den Dünen stand, fiel es ihr nicht schwer, sich all die Geschehnisse vorzustellen, von denen Beatrice erzählt hatte. Sie sah auf das Meer, das an diesem Tag ruhig dalag, sich jedoch von einem Augenblick zum anderen in
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