Das Biest in ihm (German Edition)
Naturschutzgebiet umrunden.“
Stirnrunzelnd tastete Anne in ihrer Jackentasche, ohne den Blick vom Verkehr zu we n den. Sie zog eine kleine Sprühdose hervor und reichte sie Nina. „Meinst du, Pfeffe r spray hilft auch gegen Raubtiere?“
Nina drehte sie unschlüssig in der Hand. Die schwarz- gelbe Dose machte auf sie keinen besonderen Ei n druck. „Wie nah musst du einen Angreifer kommen lassen, um ihm damit einen zu verpassen?“
Anne zuckte die Schulter. „Ziemlich nah, glaube ich. Ein Meter, vielleicht zwei?“
So nah würde sie weder einen Wolf noch ein anderes Biest kommen lassen wollen. Nicht, wenn es vorhätte, sie aufzufressen. Sie bogen auf die Zufahrt des Parkplatzes ab und Anne schaltete den Motor aus. Ihr Volvo war das ei n zige Auto.
„Willst du wirklich bei diesem Sauwetter joggen gehen?“ Sie sah skeptisch in den wo l kenverhangenen Himmel, aus dem sich jeden Moment Sturzbäche ergießen würden.
„Klar. Ich muss das jetzt haben.“ Irgendwo musste sie ihre ungestillte Leidenschaft la s sen, sonst würde sie noch von ihr gesprengt werden. Und die tausend sorgenvollen G e danken, die ständig in ihrem Hirn kreisten, wollten auch ve r scheucht werden. Und der Traum der letzten Nacht.
„Was stöhnst du?“ Annes besorgte Stimme klang durch ihre Erinnerungen.
Die Bilder bekam sie nicht aus dem Kopf. Nicht aus dem Körper und nicht aus der Seele.
„Kopfschmerzen?“
„Nein, nein. Alles gut.“
„Sieh mal da hinten!“ Anne wies nach Westen, wo sich die Wolken von Stah l grau zu Grün verfärbten. „Ehrlich, das sieht nach einem mächtigen Gewitter aus, das auf uns zukommt.“
„Ist noch weit weg.“ Aber war dieser Lichtschein in den Wolken nicht ein Blitz gew e sen? Nina wartete auf den Donner. Er kam nicht. „Los, dann scha f fen wir es noch!“
Zügig gingen sie das Stück Weg zum See, wo ihre eigentliche Runde beginnen sollte. Er hatte die Farbe des Himmels angenommen und wirkte schwer und b e drohlich. Keine einzige Welle kräuselte seine spiegelglatte Oberfläche. Die Ruhe vor dem Sturm.
„Wie weit ist es?“ Anne schwang ihre Arme kräftig vor und zurück. „Eine Stunde habe ich schon vor, zu joggen, du nicht?“
Das konnte knapp werden.
„Lass uns locker anfangen.“ Wie ein Gummiball hopste sie auf und ab. „Nur um warm zu werden, sonst bekomme ich wieder diesen tierischen Muskelk a ter, der mich zwingt, die Treppen rückwärts runterzugehen. Und wenn ’ s a n fängt, rennen wir einfach zum Auto zurück.“
„Hier rauf, Vincent. Im Fünften!“ Ganz oben beugte sich Marcel über das Treppengelä n der und winkte Vincent zu. „Immer hoch! Ist gut für die Figur!“ Als Vincent en d lich vor ihm stand, grinste er breit. „Schön, dass du geko m men bist. Außer Atem?“
„Ein wenig. Was hat dein Vermieter gegen Fahrstühle?“
Marcel lachte spöttisch. „Keine Ahnung . Nina klagt auch immer. Der Einzige, der sich freut, ist Hektor, der hasst Aufzüge, seit er als Kind mal in einem st e cken geblieben ist.“
Er führte ihn in eine kleine Dachwohnung mit Schrägen und Holzbalken. In der winz i gen Diele stand auf einem Sockel einer der Orks, den er kurz nach seinem Umzug nach Berlin gemeißelt hatte .
„Gefällt er dir?“ Marcel tätschelte den kahlen Schädel. „Zu dritt haben wir ihn die Treppe hochschle p pen müssen und selbst jetzt habe ich noch Angst, dass er eines Tages durch den Boden bricht und meiner Nachbarin auf dem Kopf landet.“
„Der ist von mir.“ Er konnte sich an Marcel als Käufer nicht erinnern.
„Weiß ich doch. Hat mir damals ein Freund geschenkt. Auch Gestaltwandler feiern Geburtstage.“
Den letzten Geburtstag, den Vincent gefeiert hatte , war ein Jahr vor seiner ersten Ve r wandlung gewesen.
„Was zu trinken? Ein Bier?“
In der kleinen Küche konnte er vor lauter Dachschrägen kaum stehen. „Nein, gib mir was anders.“
Marcel grinste. „Kein Alkohol, was? Du misstraust dir aber ganz schön, Einze l gänger.“
Aus dem Küh l schrank fischte er ein Mineralwasser, nahm zwei Gläser von der Spüle und lotste Vincent ins Wohnzimmer, das auch als Schlaf- und Arbeit s zimmer genutzt wurde. Die Schlafcouch war noch ausgeklappt und das Bettzeug lag zerknüllt darauf he r um.
„Klein , aber mein. Setz dich!“ Er nickte zu einem Sessel und plumpste selbst in einen grell grünen Sitzsack. „Betrachte mich als Vermittler zwischen dir und den Nachtme n schen. Meine Aufgabe ist es, dir den Übergang zu
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