Das Bild
einen alten
Mann hinter der Theke herumkramen sehen. Sie sollten besser
echt frisch sein, Kumpel, sonst gnade dir Gott.
Er wollte gerade die Tür aufmachen, als ihm eines der Plakate im
Schaufenster auffiel. Es war hellgelb, und obwohl er nicht wissen
konnte, daß Rosie es selbst aufgehängt hatte, spürte er eine Regung
in sich, noch bevor er die Worte Daughters and Sisters las.
Er beugte sich nach vorne, um es zu lesen, und mit einem Mal
wurden seine Augen sehr klein und sehr aufmerksam, und das
Herz schlug ihm schneller in der Brust.
KOMMT UND BESUCHT UNS AM SCHÖNEN ETTINGER’S PIER
WIR FEIERN KLAREN HIMMEL UND WARME TAGE
MIT DEM NEUNTEN JÄHRLICHEN
SOMMERANFANGS
PICKNICK UND -KONZERT
AM SAMSTAG, DEN 4. JUNI
VERKAUFSSTÄNDE * KUNSTGEWERBE *
GLÜCKSSPIELE * GESCHICKLICHKEITSSPIELE *
RAP DJ FÜR DIE KLEINEN
!!!PLUS!!!
LIVE CONCERT DER INDIGO GIRLS, 20:00 UHR
KINDERTAGESSTÄTTE FÜR ALLEINERZIEHENDE
»JEDER IST HERZLICH EINGELADEN«
DER ERLÖS DER VERANSTALTUNG FLIESST
DAUGHTERS AND SISTERS ZU, UND VERGESSEN
SIE NICHT, GEWALT GEGEN EINE FRAU IST
EIN VERBRECHEN GEGEN ALLE FRAUEN.
Samstag, der 4. Nächsten Samstag. Würde sie da sein, seine Rambling Rose? Selbstverständlich würde sie da sein, sie und ihre
neuen Lesbo-Freundinnen. Fotze und Fotze gesellt sich gern.
Norman strich mit dem Finger, in den er sich gebissen hatte, die
vierte Zeile von unten des Plakats entlang. Hellrote Flecken Blut
drangen bereits durch das Taschentuch, das er darum gewickelt
hatte.
Jeder ist herzlich eingeladen.
Da stand es, und Norman dachte, daß er sie vielleicht beim Wort
nehmen würde.
8
Donnerstag vormittag, fast halb zwölf. Rosie trank einen
Schluck Evian, rollte ihn im Mund herum, schluckte und
griff wieder nach dem Skript.
»Sie kam tatsächlich; diesmal spielten ihm seine Ohren keinen
Streich. Peterson konnte das Stakkatoklappern ihrer hohen Absätze
den Flur entlang kommen hören. Er konnte sich vorstellen, daß sie
die Handtasche bereits geöffnet hatte, nach dem Schlüssel kramte
und sich Gedanken machte, welcher Teufel sie verfolgen könnte,
obwohl sie besser auf den aufpassen sollte, der ihr auflauerte. Er
vergewisserte sich rasch, daß er das Messer noch hatte, dann zog er
den Nylonstumpf über den Kopf. Als der Schlüssel im Schloß rasselte, zog Peterson das Messer heraus und -«
»Schnitt-Schnitt-Sc/mz’tt/« brüllte Rhoda ungeduldig durch
die Lautsprecher.
Rosie sah auf und durch die Glasscheibe hinaus. Es gefiel
ihr nicht, wie Curt Hamilton einfach nur an seinem Mischpult saß und die Kopfhörer auf dem Schlüsselbein baumeln
hatte, aber richtig beunruhigte sie die Tatsache, daß Rhoda
mitten im Tonstudio eine ihrer schlanken Zigaretten rauchte,
obwohl an der Wand groß und deutlich das Schild RAUCHEN VERBOTEN hing. Rhoda sah aus, als hätte sie einen
schrecklichen Vormittag, aber da war sie nicht die einzige.
»Rhoda? Hab ich was falsch gemacht?«
»Wenn Sie Nylonstümpfe tragen, wahrscheinlich nicht«,
sagte Rhoda und schnippte Asche in einen Pappbecher, der
vor ihr auf dem Mischpult stand. »Möglicherweise machen
Sie sich auch auf Stümpfen ganz gut, aber ich würde sie trotzdem Nylonstrümpfe nennen.«
Einen Augenblick hatte Rosie nicht die geringste Ahnung,
was sie meinte, dann ging sie im Geiste noch einmal die letzten Sätze durch, die sie gelesen hatte, und stöhnte. »Herrje,
Rhoda, es tut mir leid.«
Curt setzte den Kopfhörer wieder auf und drückte einen
Knopf. »Kill All My Tomorrows, Take dreiundsieb -«
Rhoda legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte etwas,
das Rosies Magen mit Eiswasser füllte: »Laß gut sein.« Dann
sah sie zum Fenster, sah Rosies erschrockenes Gesicht und
lächelte ihr knapp, aber aufrichtig zu. »Alles in Ordnung,
Rosie, wir machen nur eine halbe Stunde früher Mittagspause. Kommen Sie raus.«
Rosie stand zu schnell auf, stieß sich ordentlich den linken Schenkel am Tisch an und hätte fast die Plastikflasche
Evian-Mineralwasser umgestoßen. Sie verlie ß hastig die
Kabine.
Rhoda und Curt standen davor, und einen Moment war
Rosie sicher - nein, sie wußte es -, daß die beiden über sie
geredet hatten.
Wenn du das wirklich glaubst, solltest du vielleicht einen Arzt
aufsuchen, sagte Ms. Praktisch-Vernünftig schneidend. Einen,
der dir Tintenkleckse zeigt und dich fragt, wie du ans Töpfchen
gewöhnt worden bist. Rosie hatte normalerweise keine Verwendung für diese Stimme, aber jetzt war sie ihr höchst willkommen.
»Ich kann es besser«, sagte sie zu Rhoda.
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