Das Bild
sondern auf die, die wir überleben. Und nun vergiß nicht, wenn
dir dein Verstand lieb ist, oder sogar dein Leben, sieh sie nicht
an!«
Die Frau in Rot sprach die letzten Worte als nachdrückliches Murmeln. Keine Minute später stand Rosie wieder vor
der blonden Frau. Sie richtete den Blick fest auf den Saum
von Rose Madders Chiton und merkte erst, daß sie das Baby
wieder zu fest drückte, als »Caroline« in ihren Armen zappelte und entrüstet mit einem Ärmchen ruderte. Das Kind
war erwacht und betrachtete Rosie mit strahlendem Interesse. Seine Augen hatten dieselbe dunstig blaue Farbe wie
der Sommerhimmel über ihnen.
»Das hast du gut gemacht«, sagte die tiefe, angenehm heisere Stimme. »Ich danke dir. Und nun gib sie mir.«
Rose Madder streckte die Hände aus. Dunkelgraue Schatten bedeckten sie. Und nun sah Rosie etwas, das ihr noch
weniger gefiel: ein dicker, graugrüner Ausschlag wuchs zwischen den Fingern der Frau wie Moos. Oder Schuppen. Ohne
nachzudenken, was sie tat, drückte Rosie das Baby an sich.
Diesmal zappelte es heftiger und stieß einen kurzen Schrei
aus.
Eine braune Hand drückte Rosies Schulter. »Ich hab dir
doch gesagt, es ist alles in Ordnung. Sie würde ihm nie etwas
antun, und außerdem werde ich mich hauptsächlich darum
kümmern, bis unsere Reise zu Ende ist. Das wird nicht mehr
lange dauern, und dann gibt sie das Kind … nun, das ist
nicht wichtig. Eine Weile gehört das Baby noch ihr. Gib es ihr,
Mädchen.«
Mit dem Gefühl, daß es das Grausamste war, das sie in
einem Leben voller Grausamkeiten je hatte tun müssen,
streckte Rosie die Hände mit dem Baby aus. Ein leises, zufriedenes Grunzen ertönte, als die schattenhaften Hände es nahmen. Das Baby schaute in das Gesicht, das Rosie nicht ansehen durfte … und lachte.
»Ja, ja«, gurrte die angenehme, heisere Stimme, und Rosie
hätte schreien können, als sie den Unterton darin hörte, der
sie an Normans Lachen erinnerte. »Ja, Süße, es war dunkel,
was? Dunkel und häßlich und schlimm, o ja, das weiß
Mama.«
Die fleckigen Hände drückten das Baby an das dunkelrote
Gewand. Das Kind sah auf, lächelte, legte den Kopf an die
Brust seiner Mutter und machte die Augen wieder zu.
»Rosie«, sagte die Frau in dem Chiton. Ihre Stimme klang
versonnen, nachdenklich, irrsinnig. Die Stimme einer Despotin, die bald die Herrschaft über imaginäre Armeen an
sich reißen wird.
»Ja«, flüsterte Rosie beinahe.
»Richtig Rosie. Rosie Richtig.«
»J-ja. Kann sein.«
»Weißt du noch, was ich dir gesagt habe, bevor du nach
unten gegangen bist?«
»Ja«, sagte Rosie. »Ich erinnere mich genau.« Sie wünschte
sich, es wäre nicht so.
»Was war es?« fragte Rose Madder begierig. »Was habe ich
dir gesagt, Rosie Richtig?«
»>Ich vergelten«
»Ja. Ich vergelte. War es schlimm für dich, da unten in der
Dunkelheit? War es schlimm für dich, Rosie Richtig?«
Sie dachte gründlich darüber nach. »Schlimm, aber längst
nicht das Schlimmste. Ich glaube, am schlimmsten war der
Bach. Ich wollte trinken.«
»Gibt es vieles in deinem Leben, das du vergessen möchtest?«
»Ja. Wahrscheinlich.«
»Deinen Mann?«
Sie nickte.
Die Frau, die das schla fende Baby an die Brust hielt, sagte
mit einer eigentümlichen, tonlosen Gewißheit, bei der Rosie
fröstelte: »Du solltest von ihm geschieden werden.«
Rosie machte den Mund auf, stellte fest, daß sie kein Wort
herausbrachte, und machte ihn wieder zu.
»Männer sind Bestien«, sagte Rose Madder im Plauderton.
»Manche kann man besänftigen und dressieren, manche
nicht. Wenn wir an einen geraten, der nicht besänftigt und
dressiert werden kann - einen Schuft -, sollen wir uns dann
verflucht oder betrogen vorkommen? Sollen wir am Straßenrand sitzen - oder in einem Schaukelstuhl neben dem Bett,
was auf dasselbe hinausläuft - und unser Schicksal beklagen?
Sollen wir gegen unser Ka aufbegehren? Nein, denn Ka ist das
Rad, welches die Welt bewegt, und wer dagegen aufbegehrt,
Mann oder Frau, wird unter ihm zerquetscht werden. Aber
mit gemeinen Bestien muß man sich auseinandersetzen. Und
wir müssen an diese Aufgabe voller Hoffnung herangehen,
denn die nächste Bestie kann immer anders sein.«
Bill ist keine Bestie, dachte Rosie, wußte aber, sie würde es
nie wagen, das in Gegenwart dieser Frau laut auszusprechen. Nur allzu leicht konnte sie sich vorstellen, wie die Frau
sie packte und ihre Kehle mit den Zähnen zerfleischte.
»Wie dem auch sei, Bestien kämpfen«, sagte Rose Madder.
»Das ist ihre Art, die Köpfe
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