Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
herausgezogen oder
zerwühlt, wie zu erwarten war, wenn sie wirklich so aktiv im
Schlaf gewesen wäre.
Aber Rosie sah etwas, das ihr ganz und gar nicht gefiel,
das ihr die alten Zeiten unvermittelt plötzlich und in aller
Schrecklichkeit ins Gedächtnis zurück rief: Blut. Aber es
waren die Spuren von dünnen Linien, nicht von Tropfen,
und sie waren so weit unten, daß sie nicht von einer zerschlagenen Nase oder einer aufgeplatzten Lippe stammen
konnten… es sei denn, ihre Bewegungen im Schlaf wären so
heftig gewesen, daß sie sich wahrhaftig im Bett herumgedreht hatte. Ihr nächster Gedanke war, daß sie Besuch vom
Kardinal bekommen hatte (Rosies Mutter hatte immer darauf bestanden, daß sie so von ihrer Menstruation sprach,
wenn sie überhaupt davon sprechen mußte), aber es war die
völlig falsche Zeit des Monats dafür.
Ist deine Zeit, Mädchen? Ist der Mond voll für dich?
»Was?« fragte sie das leere Zimmer. »Was ist mit dem
Mond?«
Wieder schwebte ihr etwas vor, zeigte sich fast und verschwand dann wieder, bevor sie es zu fassen bekam. Sie sah
an sich hinab, und da fand zumindest ein Rätsel seine
Lösung. Sie hatte einen Kratzer am rechten Oberschenkel,
und zwar einen ziemlich schlimmen, wie es aussah. Daher
stammte zweifellos das Blut auf dem Laken.
Hab ich mich im Schlaf gekratzt? Ist das der Grund für
Diesmal verweilte der Gedanke, der ihr in den Sinn kam,
etwas länger, vielleicht, weil es gar kein Gedanke war, sondern ein Bild. Sie sah eine nackte Frau - sich selbst -, die vorsichtig zur Seite gewandt einen Pfad entlangschritt, der
rechts und links von Dornenbüschen überwachsen war. Als
sie die Dusche andrehte und eine Hand unter das Wasser
hielt, um die Temperatur zu prüfen, fragte sie sich, ob man in
einem Traum spontan bluten konnte, wenn der Traum realistisch genug war. Wie die Leute, die am Karfreitag an Händen und Füßen bluteten.
Stigmata? Willst du damit sagen, daß du zu allem anderen auch
noch an Stigmata leidest?
Ich will gar nichts damit sagen, weil ich nichts weiß, beantwortete sie ihre Frage, und das war ja die reine Wahrheit. Sie
nahm an, sie könnte - mit Mühe - glauben, daß sich spontan
ein Kratzer in der Haut einer Schlafenden zeigen konnte, der
einem im Traum zugefügten Kratzer entsprach. Es war weit
hergeholt, aber nicht völlig von der Hand zu weisen.
Unmöglich war dagegen, daß man ein Nachthemd vom Körper verschwinden lassen konnte, indem man träumte, daß
man nackt war.
(Zieh das Ding aus, das du trägst.
Das kan ich nicht! Ich hab nichts darunter an!
Ich werd’s keinem verraten …)
Phantomstimmen. Eine erkannte sie als ihre eigene, aber
die andere?
Aber das war nicht wichtig; sicher nicht. Sie hatte das
Nachthemd im Schlaf ausgezogen, das war alles, möglicherweise auch in einem wachen Intermezzo, an das sie sich jetzt
ebensowenig erinnern konnte wie an ihre wirren Träume, in
denen sie im Dunkeln herumgerannt war oder Bäche mit
schwarzem Wasser auf weißen Steinen überquert hatte. Sie
hatte es ausgezogen, und wenn sie nachsah, würde sie es
zweifellos zusammengeknüllt unter dem Bett finden.
»Genau. Es sei denn, ich habe es gegessen, oder so w-«
Sie zog die Hand zurück, mit der sie die Wassertemperatur
geprüft hatte, und betrachtete sie erstaunt. Verblassende
purpurrote Flecken waren an ihren Fingerspitzen zu sehen,
und sie hatte etwas hellere Reste derselben Substanz unter
den Nägeln. Sie hob die Hand langsam zum Gesicht, worauf
eine Stimme tief in ihrem Innersten
- diesmal nicht die
Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig, jedenfalls glaubte sie
es nicht - mit unbestreitbarer Angst reagierte. Steck dir nicht
mal die Hand in den Mund, mit der du die Kerne berührt hast!
»Was für Kerne?« fragte Rosie ängstlich. Sie roch an ihren
Fingern und nahm gerade noch den Hauch eines Aromas
wahr, ein Geruch, der sie ans Backen und an süßen, karamelisierten Zucker erinnerte. »Was für Kerne? Was ist gestern
nacht passiert? Ist es -« Da verstummte sie. Sie wußte, was
sie sagen wollte, aber sie wollte nicht hören, wie die Frage
tatsächlich ausgesprochen wurde, damit sie nicht wie eine
unvollendete Angelegenheit im Raum stehenblie b: Ist es noch nicht zu Ende?
Sie ging unter die Dusche, drehte das Wasser so heiß, daß
sie es gerade noch ertragen konnte, und griff nach der Seife.
Sie wusch sich die Hände besonders sorgfältig und schrubbte
sie, bis sie nicht mal mehr eine Spur der dunkelroten Substanz sehen konnte, auch nicht unter den

Weitere Kostenlose Bücher