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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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man so deutlich sehen kann, nicht echt sein? Und ich bin eingedöst, das weiß
ich. Wie kann man in einem Traum einschlafen? Wie kann man
einschlafen, wenn man schon schläft?
    Vergiß es, sagte Ms. Praktisch-Vernünftig. Das ist, zumindest
vorläufig, das Beste.
Ja, das stimmte wahrscheinlich.
Rosie ging weiter, und als sie den umgestürzten Baum
erreichte, der den Weg versperrte, sah sie amüsiert und ziemlich verärgert, daß sie sich den mühsamen Weg um die Wurzeln herum hätte sparen können: Es führte ein gangbarer
Weg um das andere Ende des Baums herum.
Zumindest jetzt, dachte sie, als sie ihn einschlug. Bist du
sicher, daß er vorhin auch schon da war?
Das steinige Murmeln des schwarzen Bachs kam ihr zu
Ohren, und als sie dort war, konnte sie sehen, daß der Pegel
bereits gefallen war und die Steine nicht mehr so gefährlich
klein aussahen; jetzt wirkten sie fast so groß wie Bodenflie sen, und der Geruch des Wassers hatte sein seltsam anzie hendes Aroma verloren. Jetzt roch es nur noch wie sehr hartes Wasser, das einen orangefarbenen Ring in der Badewanne
und der Toilettenschüssel hinterlassen würde.
Das Keifen der Vögel Du warst es, Nein, ich war es nicht,
Doch, du warst es fing wieder an, und sie erblickte zwanzig
oder dreißig der häßlichsten Geschöpfe, die sie je in ihrem
Leben gesehen hatte, auf dem Dach des Tempels. Sie waren
viel zu groß für Krähen, und nach einem Moment kam Rosie
zum Ergebnis, daß es sich um die Bussarde oder Geier dieser
Welt handeln mußte. Aber woher waren sie gekommen?
Und warum waren sie hier?
Ohne es zu merken, bis das Baby sich wand und im Schlaf
protestierte, drückte Rosie es fester an die Brust, während sie
die Vögel beobachtete. Sie flogen alle im selben Moment in
die Höhe, ihre Schwingen flatterten wie Laken auf der
Wäscheleine. Es war, als hätten sie gesehen, wie Rosie sie
anstarrte, und es hätte ihnen nicht gefallen. Die meisten
suchten Zuflucht in den abgestorbenen Bäumen hinter ihr,
aber einige blieben am dunstigen Himmel und zogen dort
ihre Kreise, als bildeten sie ein schlimmes Vorzeichen in
einem Western.
Woher sind sie gekommen? Was wollen sie?
Weitere Fragen, auf die Rosie keine Antwort wußte. Sie
verdrängte sie und überquerte den Bach auf den Steinen. Als
sie sich dem Tempel näherte, sah sie einen wenig begangenen, aber noch sichtbaren Pfad um seine Steinmauer herum
und beschritt ihn ohne auch nur einen Moment darüber
nachzudenken, obwohl sie nackt war und Dornenbüsche auf
beiden Seiten des Pfads wuchsen. Sie schritt vorsichtig
dahin, ging seitwärts, damit sie sich die Hüften nicht zerkratzte, und hielt
(Caroline)
das Baby hoch, außer Reichweite der Dornen. Rosie bekam
trotz ihrer Vorsicht zwei oder drei Kratzer ab, aber nur einer
- an ihrem ohnehin malträtierten rechten Oberschenkel
-
war so tief, daß Blut floß.
Als Rosie um die Ecke des Tempels kam und an seiner
Fassade hochsah, kam es ihr so vor, als hätte sich das
Gebäude irgendwie verändert; die Veränderung war so
grundlegend, daß sie sie gar nicht erfassen konnte. Sie vergaß die Sache vorübergehend angesichts der Erleichterung,
mit der sie »Wendy« noch bei der umgestürzten Säule stehen
sah, aber als sie sechs Schritte auf die Frau in dem roten Kleid
zugegangen war, blieb Rosie stehen, drehte sich um und
betrachtete das Gebäude mit offenen Augen, mit offenem Geist.
Diesmal sah sie die Veränderung sofort und stieß ein leises
Grunzen der Überraschung aus. Der Tempel des Stiers sah
jetzt steif und unwirklich aus … zweidimensional. Rosie
mußte an eine Zeile aus einem Gedicht denken, das sie an der
High School gelesen hatte, etwas über ein gemaltes Schiff auf
einem gemalten Ozean. Das seltsame, beunruhigende Gefühl, daß die Perspektive des Tempels nicht stimmte (oder er
sich in einem seltsamen, nicht-euklidischen Universum
befand, wo andere geometrische Gesetze galten), war verschwunden, und mit ihm die Aura des Bedrohlichen. Nun
sahen alle Linien gerade aus, wie man es bei so einem Bauwerk erwartete; keine unerwarteten Windungen oder Zakken in der Architektur beunruhigten das Auge. Das Gebäude
sah tatsächlich wie das Gemälde eines Künstlers aus, dessen
mittelmäßiges Talent und unbändiger Hang zur Romantik
zusammengewirkt und ein wahrhaft schlechtes Kunstwerk
geschaffen hatten - die Art von Bild, die immer in einer Ecke
im Keller oder auf einem Regal im Dachboden Staub anzusetzen scheint, zusammen mit alten Ausgaben von National
Geographie und

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