Das Bild
Sache gut gemacht, aber du bist noch nicht fertig.
Nein, eindeutig nicht. Sie mußte mehr als zweihundert
Stufen hochsteigen, diesmal mit einem Kind auf dem Arm,
und sie war jetzt schon erschöpft.
Eine nach der anderen, meine Liebe, sagte Ms. Praktisch-Vernünftig. So mußt du es machen. Eine Stufe nach der anderen.
Ja, ja. Ms. P & S, Königin der Zwölf-Stufen-Philosophie.
Rosie machte sich an den Aufstieg (eine Stufe nach der
anderen), sah von Zeit zu Zeit über die Schulter und dachte
unausgegorene
(können Stiere Treppen hinaufsteigen?)
schreckliche Gedanken, während das Labyrinth hinter ihr
zurückblieb. Das Baby auf ihren Armen wurde schwerer und
schwerer, als würde hier ein seltsames mathematisches
Gesetz in Kraft treten: Je näher an der Oberfläche, desto
schwerer das Kind. Sie konnte ein Pünktchen Tageslicht über
sich erkennen und richtete den Blick darauf. Eine Weile
schien es sie zu verspotten und überhaupt nicht größer zu
werden, während ihr Atem immer schneller ging und das
Blut in ihren Schläfen hämmerte. Zum erstenmal seit fast
zwei Wochen schmerzten ihre Nieren wieder; ihr Pochen bildete einen dumpfen Kontrapunkt zum gequälten Schlag
ihres Herzens. Das alles beachtete sie gar nicht - jedenfalls so
gut sie konnte - und behielt den Blick auf das Pünktchen
gerichtet. Schließlich wurde es größer und nahm den Umriß
der Öffnung am Ende der Treppe an.
Fünf Stufen vom Ausgang entfernt überkam sie ein lähmender Krampf in den Muskeln ihres rechten Oberschenkels, der ihr Fleisch vom Knie bis hinauf zur rechten Pobacke
zusammenzog. Als sie sich bückte, um das Bein zu massieren, kam es ihr anfangs so vor, als wollte sie Stein kneten.
Leise stöhnend, und mit einem Mund, der zu einer Fratze
des Schmerzes verzerrt war, bearbeitete sie ihre Muskeln
(was sie im Verlauf ihrer Ehe ziemlich oft getan hatte), bis sie
sich allmählich wieder entspannten. Sie winkelte das Bein an
und wartete, ob der Krampf wieder zuschlagen würde. Als
er ausblieb, ging sie zaghaft die letzten Stufen hinauf, wobei
sie das schmerzende Bein schonte. Oben angekommen, sah
sie sich mit dem fassungslosen Blick eines Bergarbeiters um,
der, allen seinen Erwartungen zum Trotz, einen schrecklichen Stolleneinbruch überlebt hat.
Während sie unter der Erde gewesen war, waren die Wolken aufgebrochen, dunstiges Spätsommerlicht erhellte den
Tag. Es war feucht und schwül, aber Rosie dachte, daß sie
noch niemals in ihrem Leben köstlichere Luft geatmet hatte.
Sie wandte das von Schweiß und Tränen nasse Gesicht dankbar dem verwaschenen Jeansblau zu, das sie zwischen den
Wolken sehen konnte. Irgendwo in der Ferne grollte der
Donner noch haßerfüllt, wie ein vertriebener Schläger der
leere Drohungen ausstößt. Da mußte sie an Erinyes denken,
der unten in der Dunkelheit herumrannte und immer noch
nach der Frau suchte, die in sein Reich eingedrungen und
seinen kostbaren Schatz gestohlen hatte. Cherchez la femme, dachte Rosie mit dem Anflug eines Lächelns. Du kannst chercher so lange du willst, mein freund; diese femme, ganz zu
schweigen von ihrer petite fille sind dir entkommen.
IO
Rosie entfernte sich langsam von der Treppe. Am Anfang des
Wegs, der zum Hain der abgestorbenen Bäume zurückführte, setzte sie sich und nahm das Baby auf den Schoß. Sie
wollte nur wieder zu Atem kommen, aber die dunstige
Sonne schien ihr warm auf den Rücken, und als sie den Kopf
wieder hob, schloß sie aus dem leicht gewandeten Umriß
ihres Schattens, daß sie gedöst haben mußte.
Als sie aufstand und wegen der Schmerzen, die durch
ihren rechten Oberschenkel schössen, das Gesicht verzog,
hörte sie die schrillen, krächzenden Schreie zahlreicher
Vögel - sie hörten sich an wie eine große Familie, die beim
Sonntagsessen einen erbitterten Streit austrägt. Das Kind auf
ihrem Arm gab ein leises Schnarchgeräusch von sich, als
Rosie es etwas bequemer bettete, ließ damit eine kleine
Spuckeblase zwischen den geschürzten Lippen erblühen
und verstummte wieder. Rosie amüsierte die gelassene,
schläfrige Zuversicht, und gleichzeitig beneidete sie das
Kind darum.
Sie ging den Weg entlang, dann blieb sie stehen und drehte
sich noch einmal zu dem einzelnen lebenden Baum mit seinen glänzenden grünen Blättern, seinen tödlichen, purpurroten Früchten und dem aus dem Märchenbuch entsprungenen U-Bahn-Eingang dahinter um. Das alles betrachtete sie
eine ganze Weile und prägte es sich ein.
Das alles ist echt, dachte sie. Wie könnte etwas, das
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