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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zu senken und aufeinander einzustürmen, damit sie ihre Hörner erproben können. Hast du
verstanden?«
Rosie glaubte plötzlich, daß sie tatsächlich verstand, was
die Frau ihr sagen wollte, und das erfüllte sie mit Entsetzen.
Sie hob die Finger zum Mund und berührte ihre Lippen, die
sich trocken und fiebrig anfühlten. »Es wird keinen Kampf
geben«, sagte sie. »Es wird keinen Kampf geben, weil sie
nichts voneinander wissen. Sie -«
»Bestien kämpfen«, wiederholte Rose Madder, dann hielt
sie Rosie etwas hin. Rosie brauchte einen Moment, bis ihr
klar wurde, worum es sich handelte: den goldenen Armreif,
den sie über dem rechten Ellbogen getragen hatte.
»Ich … ich kann nicht…«
»Nimm ihn«, sagte die Frau in dem Chiton plötzlich
schroff und ungeduldig. »Nimm ihn, nimm ihn! Und hör auf
zu winseln! Bei allen Göttern, die je existiert haben, hör mit
deinem schafsmäßigen Winseln auf«
Rosie streckte eine zitternde Hand aus und nahm den
Armreif. Obwohl ihn die blonde Frau am Körper getragen
hatte, fühlte er sich kalt an. Ich weiß nicht, was ich tun werde,
wenn sie mir sagt, ich soll ihn anlegen, dachte Rosie, aber Rosie
Madder verlangte nicht von ihr, daß sie ihn anlegte. Statt dessen streckte sie die fleckige Hand aus und zeigte auf den Olivenbaum. Die Staffelei war verschwunden, und das Bild war
- wie das in Rosies Zimmer - zu gewaltiger Größe angeschwollen. Und es hatte sich verändert. Es zeigte immer noch
das Zimmer in der Tremont Street, aber die Frau stand nicht
mehr mit dem Gesicht zur Tür, und der Schatten, der auf
Wand und Sofa gefallen war, war fort. Logisch; das Zimmer
lag jetzt im Dunkeln. Nur eine Andeutung von blondem
Haar und eine bloße Schulter waren über der Bettdecke zu
sehen.
Das bin ich, dachte Rosie staunend. Das bin ich, wie ich
schlafe und diesen Traum habe.
»Geh jetzt«, sagte Rose Madder und berührte sie am Hinterkopf. Rosie machte einen Schritt auf das Bild zu, um auch
nur der leichtesten Berührung dieser kalten und schrecklichen Hand zu entgehen. Dabei stellte sie fest, daß sie - ganz
leise - Verkehrslärm hören konnte. Grillen hüpften im hohen
Gras um ihre Füße und Waden herum. »Geh, kleine Rosie
Richtig. Danke, daß du mein Baby gerettet hast.«
»Unser Baby«, sagte Rosie und verspürte augenblicklich
Todesangst. Jemand, der es wagte, diese Frau zu verbessern,
mußte selbst den Verstand verloren haben.
Aber die Frau in dem dunkelroten Chiton schien mehr
amüsiert als erbost zu sein, als sie antwortete. »Ja, ja, wenn es
dir gefällt unser Baby. Geh jetzt. Erinnere dich an das,
woran du dich erinnern mußt, und vergiß, was du vergessen
mußt. Schütze dich selbst, wenn du dich nicht im Kreis meines Schutzes befindest.«
Worauf du dich verlassen kannst, dachte Rosie. Und ich werde
nicht zu dir kommen und dich um einen Gefallen bitten, das kannst
du mir glauben. Das wäre, als würde man Idi Amin bitten, eine
Gartenparty auszurichten, oder Adolf Hitler, eine
Der Gedanke brach ab, als sie sah, wie die Frau in dem
Gemälde sich im Bett wälzte und die Decke über die nackte
Schulter zog.
Kein Bild, nicht mehr.
Ein Fenster.
»Geh, Mädchen«, sagte die Frau im roten Kleid leise. »Du
hast deine Sache gut gemacht. Aber nun geh, bevor sie es sich
anders überlegt.«
Rosie schritt auf das Bild zu, als Rose Madder hinter ihr
noch etwas sagte, aber nun klang ihre Stimme nicht angenehm oder heiser, sondern laut und schroff und mörderisch: »Und vergiß nicht: Ich vergelte.«
Rosie kniff nach diesem unerwarteten Ausruf die Augen
zusammen und machte einen Sprung vorwärts, weil sie
dachte, daß die Frau in dem Chiton den Gefallen, den sie ihr
getan hatte, schon vergessen hatte und sie doch umbringen
wollte. Sie stolperte über etwas (möglicherweise den unteren
Rand des Gemäldes?), und dann hatte sie das Gefühl, zu fallen. Sie spürte, daß ihr Magen sich drehte wie ein Zirkusclown, und dann herrschte nur noch Dunkelheit, die an
ihren Augen und Ohren vorbeirauschte. In dieser Dunkelheit schien sie ein geheimnisvolles Geräusch zu hören; es
war in weiter Ferne, kam aber immer näher. Vielleicht war es
das Geräusch der Züge in den tiefen Tunneln unter der
Grand Central Station, vielleicht war es Donnergrollen, vielleicht auch der Stier Erinyes, der mit gesenktem Kopf und
vorgestreckten kurzen, spitzen Hörnern blind in den Tiefen
seines Labyrinths herumlief.
Und dann wußte Rosie, zumindest eine kurze Weile, über
haupt nichts mehr.
11
    Sie schwebte stumm und

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