Das Bild
ohne Gedanken, traumlos wie ein
Embryo in seiner Fruchtblase, bis sieben Uhr morgens. Dann
riß der Big Ben auf dem Nachttisch sie mit seinem unbarmherzigen Gebrüll aus dem Schlaf. Rosie fuhr kerzengerade in
die Höhe, fuchtelte mit zu Klauen geformten Händen in der
Luft und schrie etwas, das sie nicht verstand, Worte aus
einem Traum, den sie schon vergessen hatte: »Zwing mich
nicht, dich anzusehen! Zwing mich nicht, dich anzusehen! Zwing
mich nicht! Zwing mich nicht!«
Dann sah sie die beigefarbenen Wände, das Sofa, das
eigentlich nur ein Kuschelsessel mit Größenwahn war, und
das Licht, das zum Fenster hereinfiel, und das alles half ihr,
den erforderlichen Halt in der Wirklichkeit zu finden. Wer
auch immer sie in ihrem Traum gewesen sein, wo immer sie
sich befunden haben mochte, jetzt war sie wieder Rosie
McClendon, eine alleinstehende Frau, die Audiobücher aufnahm, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie hatte
lange Zeit mit einem bösen Mann zusammengelebt, aber sie
hatte ihn verlassen und einen guten kennengelernt. Sie
wohnte in einem Zimmer in 897 Trenton Street, erster Stock,
Ende des Flurs, schöne Aussicht auf den Bryant Park. Oh,
und noch etwas. Sie war eine alleinstehende Frau, die nicht
die Absicht hatte, jemals wieder einen Riesen-Hot-Dog zu
essen, schon gar keinen mit Sauerkraut. Anscheinend bekamen die ihr nicht. Sie konnte sich nicht daran erinnern, was
sie geträumt hatte,
(Erinnere dich an das, woran du dich erinnern mußt, und vergiß, was du vergessen mußt)
aber sie wußte, wie es angefangen hatte: Sie war in dieses
verdammte Bild hineingegangen wie Alice durch den Spiegel.
Rosie blieb einen Moment sitzen, wo sie war, und nahm
ihre Rosie-Richtig-Welt so gut sie konnte in sich auf, dann
streckte sie die Hand nach dem unbarmherzigen Wecker aus.
Sie bekam ihn nicht zu fassen, sondern stieß ihn auf den
Boden. Dort lag er und stieß seinen hektischen, sinnlosen
Schrei aus.
»Stellt Behinderte ein, es macht Spaß, ihnen zuzusehen«,
krächzte sie.
Sie bückte sich, tastete nach dem Wecker und war wieder
fasziniert von den blonden Haaren, die sie aus dem Augenwinkel sah - Locken, die so ganz und gar nicht zu dem unterwürfigen kleinen Mäuschen Rose Daniels paßten. Sie bekam
den Wecker zu fassen, tastete mit dem Daumen nach dem
Knopf zum Abschalten und hielt inne, als ihr etwas anderes
auffiel: Die Brust, die an ihrem rechten Unterarm lag, war
nackt.
Sie brachte den Wecker zum Schweigen, hielt ihn aber
noch in der Hand, als sie sich im Bett aufsetzte. Sie schob das
Laken und die leichte Decke nach unten. Ihre untere Hälfte
war so nackt wie die obere.
»Wo ist mein Nachthemd?« fragte sie das leere Zimmer. Sie
glaubte, daß sie sich noch niemals so ausgesprochen dumm
angehört hatte … aber selbstverständlich war sie nicht daran
gewöhnt, mit Nachthemd ins Bett zu gehen und ohne aufzuwachen. Nicht einmal vierzehn Jahre Ehe mit Norman hatten
sie auf etwas so Außergewöhnliches vorbereiten können. Sie
stellte den Wecker wieder auf den Nachttisch, schwang die
Beine aus dem Bett
»Au!« schrie sie, erschrocken und besorgt über die
Schmerzen in ihren steifen Hüften und Schenkeln. Sogar ihr
Po tat weh. »Au, au, AU!«
Sie setzte sich auf die Bettkante und beugte zaghaft das
rechte Bein, dann das linke. Sie konnte sie bewegen, aber sie
taten weh, besonders das rechte. Es war, als hätte sie den
ganzen gestrigen Tag bis zum Umfallen trainiert, Rudermaschine, Lauf band, Stairmaster, aber die einzige Anstrengung
war der Spaziergang mit Bill gewesen, und da waren sie
lediglich gemütlich geschlendert.
DAS Geräusch war wie das der Züge in der Grand Central Station, dachte sie.
Was für ein Geräusch?
Einen Augenblick lang dachte sie, es läge ihr auf der
Zunge - jedenfalls etwas -, aber dann war es wieder fort. Sie
stand langsam und vorsichtig auf, blieb einen Moment
neben dem Bett stehen und ging dann zum Bad. Hinkte zum
Bad. Ihr rechtes Bein fühlte sich an, als hätte sie es tatsächlich
überlastet, und ihre Nieren schmerzten. Was, um alles in der
Welt, hatte sie im Schlaf gemacht?
Sie erinnerte sich, wie sie einmal gelesen hatte, daß manche Leute im Schlaf »rannten«. Vielleicht hatte sie das getan;
vielleicht war das Durcheinander ihrer Träume, an das sie
sich nicht richtig erinnern konnte, so schrecklich gewesen,
daß sie tatsächlich versucht hatte, davor wegzulaufen. An
der Tür zum Bad blieb sie stehen und sah zum Bett zurück.
Das Bettuch war zerknittert, aber nicht
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