Das Bild
Stapeln von Puzzles, bei denen ein oder zwei
Stücke fehlten.
Oder vielleicht auch im selten besuchten dritten Gang
einer Pfandleihe.
»Mädchen! Du, Mädchen!«
Sie drehte sich zu »Wendy« um und stellte fest, daß diese
ungeduldig winkte.
»Beeil dich und bring das Baby her! Das ist keine Touristenattraktion! «
Rosie schenkte ihr keine Beachtung. Sie hatte ihr Leben für
dieses Kind riskiert und hatte nicht vor, sich zur Eile antreiben zu lassen. Sie schlug die Decke zurück und sah einen
Körper, der nackt und weiblich war, wie ihr eigener. Aber
damit war die Ähnlichkeit auch schon erschöpft. Das Kind
hatte keine Narben, keine Spuren, die wie die verblassenden
Zähne alter Klappfallen aussahen. Soweit Rosie erkennen
konnte, wies der kleine, zierliche Babyleib nicht ein einziges
Muttermal auf. Sie strich langsam mit einem Finger an dem
Baby entlang, von der Wölbung des Knöchels über die Wölbung der Hüfte bis zur Wölbung der Schulter. Perfekt.
Ja, perfekt. Und nachdem du nun dein Leben für sie riskiert hast, Rosie, nachdem du sie vor der Dunkelheit und dem Stier und Gott
weiß, wovor noch, gerettet hast, das da unten lauern mag, hast du
wirklich vor, sie diesen beiden Frauen zu übergeben? Beide sind
von einer Krankheit gezeichnet, und die auf dem Hügel ist obendrein im Kopf nicht ganz richtig. Und zwar ernsthaft. Hast du
wirklich die Absicht, ihnen das Kind zu geben?
»Es wird ihm an nichts fehlen«, sagte die Frau mit der
braunen Haut. Rosie wirbelte in Richtung der Stimme
herum. »Wendy Yarrow« stand jetzt dicht neben ihr, sah
Rosie an und schien alles zu verstehen.
»Ja«, sagte sie und nickte, als hätte Rosie ihre Zweifel laut
ausgesprochen. »Ich weiß, was du denkst, und ich versichere
dir, es ist schon gut. Sie ist verrückt, daran kann kein Zweifel
bestehen, aber ihr Wahnsinn erstreckt sich nicht auf das
Kind. Sie weiß, sie kann das Kind nicht behalten, auch wenn
sie es geboren hat, ebensowenig, wie du es behalten kannst.«
Rosie sah zum Hügel, wo sie die Frau in dem Chiton, die
neben dem Pony stand und darauf wartete, welchen Ausgang die Episode nehmen würde, gerade noch erkennen
konnte.
»Wie heißt sie?« fragte Rosie. »Die Mutter des Babys?
Heißt sie -«
»Hör auf«, fiel ihr die dunkelhäutige Frau im roten Kleid
hastig ins Wort, als wollte sie verhindern, daß Rosie ein Wort
in den Mund nahm, das besser unausgesprochen blieb. »Ihr
Name ist nicht wichtig, Mädchen. Ihr Geisteszustand schon.
Sie ist heutzutage eine ziemlich ungeduldige Lady, abgesehen von allen anderen Leiden. Wir sollten besser nicht mehr
schwatzen und raufgehen.«
Rosie sagte: »Ich hatte mich entschieden, mein Baby Caroline zu nennen. Norman hat gesagt, das könnte ich. Ihm war
es so oder so egal.« Sie fing an zu weinen.
»Ich finde, das ist ein hübscher Name. Ein guter Name.
Jetzt hör auf zu weinen. Laß gut sein.« Sie legte Rosie einen
Arm um die Schultern, dann gingen sie gemeinsam den
Hügel hinauf. Das Gras strich sanft über Rosies nackte Beine
und kitzelte sie an den Knien. »Wirst du einen Rat von mir
annehmen, Mädchen?«
Rosie sah sie neugierig an.
»Ich weiß, im Kummer ist guter Rat oft ungebeten, aber vergiß nicht, ich bin dafür qualifiziert: Ich wurde in der Sklaverei
geboren, bin in Ketten aufgewachsen und bekam von einer
Frau die Freiheit geschenkt, die nicht ganz eine Göttin ist. Von ihr.« Sie deutete zu der Frau, die sie schweigend beobachtete
und auf sie wartete. »Sie hat das Wasser der Jugend getrunken, und es mir auch zu trinken gegeben. Nun reisen wir
zusammen, und dabei weiß ich nichts über sie, aber manchmal, wenn ich in den Spiegel seh, wünsch ich mir Falten. Ich
stand an den Gräbern meiner Kinder und deren Kinder und
Kindeskinder, bis in die fünfte Generation. Ich habe Kriege
kommen und gehen sehen wie Wellen am Strand, die Fußspuren auslöschen und Sandburgen fortspülen. Ich habe
brennende Leiber gesehen, und Köpfe, die zu Hunderten in
den Straßen der Stadt Lud auf Pfähle gespießt worden waren.
Ich habe gesehen, wie weise Männer ermordet wurden und
Narren ihre Plätze einnahmen, und lebe immer noch.«
Sie seufzte tief.
»Ich lebe immer noch, und das allein ist meine Qualifikation, dir einen Rat mit auf den Weg zu geben. Willst du ihn
hören? Antworte schnell. Sie soll ihn nicht mitbekommen,
und wir nähern uns ihr rasch.«
»Ja, sprich«, sagte Rosie.
»Am besten geht man mit der Vergangenheit rücksichtslos
um. Es kommt nicht auf die Schläge an, die wir kriegen,
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