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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Stimme: Bestien
kämpfen.
»Was?« Rosie erstarrte mit der Plastikflasche in einer
Hand. Sie hatte Angst und wußte nicht genau, warum. »Was
hast du gesagt?«
Nichts. Sie konnte sich nicht mal mehr genau erinnern,
was sie gedacht hatte, nur daß es wieder mit diesem verdammten Bild zu tun gehabt hatte, das ihr wie ein Refrain im
Kopf herumspukte, den man nicht mehr vergessen konnte.
Als sie ihr Haar einschäumte, beschloß Rosie plötzlich, daß
sie es weggeben würde. Nach diesem Entschluß fühlte sie
sich besser, wie bei dem Gedanken, eine schlechte Angewohnheit aufzugeben
- rauchen, zum Mittagessen Alkohol
trinken -, und als sie aus der Duschkabine kam, summte sie
fröhlich vor sich hin.
3
    Bill quälte sie nicht mit Zweifeln, indem er sich verspätete.
Rosie hatte einen der Küchenstühle ans Fenster gezogen,
damit sie nach ihm Ausschau halten konnte (um Vie rtel nach
sieben hatte sie das getan, drei volle Stunden, nachdem sie
geduscht hatte), und fünfundzwanzig Minuten nach acht
parkte ein Motorrad mit einer Kühltasche auf dem Gepäckträger in einer der Parklücken vor dem Haus. Der Kopf des
Fahrers war unter einem blauen Helm verborgen, und durch
den schiefen Winkel konnte sie sein Gesicht nicht sehen, aber
sie wußte, daß er es war. Den Umriß seiner Schultern hatte
sie sich schon unauslöschlich eingeprägt. Er ließ den Motor
einmal aufheulen, dann machte er ihn aus und klappte mit
dem Absatz des Stiefels den Ständer der Harley herunter. Er
stieg von der Maschine ab, und einen Moment konnte man
die Konturen seines Oberschenkels deutlich unter den verwaschenen Jeans erkennen. Rosie verspürte einen Schauer
zaghafter, aber unmißverständlicher Lust in sich, und dachte: Daran werde ich heute nacht vor dem Einschlafen denken; das
werde ich sehen. Und wenn ich großes, großes Glück habe, werde
ich davon träumen.
    Sie überlegte, ob sie hier oben auf ihn warten sollte, ob sie
ihn zu sich kommen lassen sollte wie ein Mädchen, das sich
im Haus seiner Eltern wohlfühlt, auf den Jungen warten
würde, der sie zum Abschlußball ausführen möchte; das auf
ihn warten würde, auch wenn er schon da ist, um ihn, mit
einem heimlichen, verhaltenen Lächeln, in ihrem trägerlosen
Abendkleid am Fenster ihres Zimmers hinter dem Vorhang
zu beobachten, wie er aus dem frisch gewaschenen und gewachsten Auto seines Vaters aussteigt und zur Tür kommt,
wo er sich nervös die Krawatte zurechtrückt oder an seinem
Kummerbund zupft.
    Sie überlegte es sich, doch dann riß sie die Schranktür auf,
griff hinein und riß den Pullover heraus. Sie lief den Flur entlang und schlüpfte unterwegs hinein. Als sie das Ende der
Treppe erreichte, wo er ihr schon auf halbem Weg entgegenkam und den Kopf hob, um sie anzusehen, überlegte sie sich,
daß sie das perfekte Alter hatte: zu alt, um der Form halber
schüchtern zu sein, aber immer noch jung genug, um daran
zu glauben, daß sich manche Hoffnungen - die, auf die es
wirklich ankommt - entgegen aller Wahrscheinlichkeit doch
noch erfüllen können.
    »Hi«, sagte sie und sah zu ihm hinunter. »Du bist pünktlich.«
»Klar«, sagte er und sah hoch. Er wirkte ein wenig überrascht. »Ich bin immer pünktlich. So bin ich erzogen worden.
Ich glaube, es steckt schon in meinen Genen.« Er streckte ihr
eine Hand - im Handschuh - entgegen wie ein Kavalier in
einem Film. Er lächelte. »Bist du bereit?«
Auf diese Frage wußte sie noch keine Antwort, daher ging
sie ihm einfach entgegen, nahm seine Hand und ließ sich von
ihm ins Freie führen, wo die Sonne den ersten Samstag im
Juni begrüßte. Er führte sie zum Bordstein, wo das Motorrad
stand, betrachtete sie kritisch von oben bis unten und schüttelte den Kopf. »Nee, nee, der Pullover bringt´s nicht«, sagte
er. »Zum Glück hat mich meine Pfadfinderausbildung noch
nie im Stich gelassen.«
Auf beiden Seiten des Gepäckträgers der Harley hingen
Satteltaschen. Er machte eine davon auf und holte eine
Lederjacke wie seine eigene heraus: auf beiden Seiten oben
und unten Taschen mit Reißverschluß, ansonsten schwarz
und schlicht. Keine Nieten, Epauletten, Blitzembleme oder
ähnlicher Flitterkram. Sie war kleiner als die von Bill. Rosie
betrachtete die Jacke, die schlapp wie ein Pelz in seiner Hand
hing, und wurde von der Frage gequält, die auf der Hand
lag.
Er sah ihren Blick, verstand ihn sofort und schüttelte den
Kopf. »Es ist die Jacke von meinem Dad. Er hat mir das Fahren auf einer alten Indian beigebracht, die er gegen

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