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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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wie das Pendel einer
Uhr. Lana sah ihr amüsiert nach, dann konzentrierte sie sich
wieder auf das Foto. Dabei strich sie sich geistesabwesend
über das weiße Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz
gebunden hatte.
»Kennst du ihn?« fragte Gert.
    Lana schüttelte den Kopf, aber Gert dachte, daß sie damit
eher ihrem Zweifel Ausdruck geben als die Frage verneinen
wollte.
»Stell ihn dir ohne Haare vor.«
Lana machte etwas Besseres; sie deckte das Foto vom
    Haaransatz mit der Hand ab. Dann studierte sie es eingehender denn je und bewegte dabei ihre Lippen, als würde sie es
nicht betrachten, sondern lesen. Als sie Gert wieder ansah,
war ihr Gesicht verwirrt und besorgt zugleich.
    »Ich hab heute morgen einem Mann ein Joghurteis
spendiert«, begann sie zögernd. »Er trug eine Sonnenbrille,
aber -«
    »Er saß im Rollstuhl«, sagte Gert, und obwohl sie wußte,
daß die Schwierigkeiten damit erst anfingen, kam es ihr
trotzdem vor, als wäre ihr eine große Last von den Schultern
genommen worden. Es war besser, Bescheid zu wissen als
keine Ahnung zu haben. Besser, man hatte Gewißheit.
    »Ja. Ist er gefährlich? Das ist er, nicht? Ich bin mit einigen
Frauen hier, die in den letzten Jahren schwere traumatische
Erlebnisse hatten. Sie sind ziemlich empfindlich. Wird es
Ärger geben, Gert? Ich frage ihretwegen, nicht meinetwegen.«
    Gert dachte lange darüber nach, bevor sie sagte: »Ich
glaube, alles wird gut. Ich glaube, das Schlimmste ist fast
überstanden.«
13
    Norman riß Cynthia die ärmellose Bluse vom Leib und entblößte
ihre Brüste, die nicht größer als Teetassen waren. Er drückte ihr
eine Hand auf den Mund, brachte sie zum Schweigen und drückte
sie gleichzeitig an die Wand. Er rieb den Unterleib an ihrem. Er
spürte, wie sie zurückweichen wollte, was ihr selbstverständlich
nicht gelang, und das erregte ihn noch mehr, weil er sie gefangen
hatte. Aber nur sein Körper war erregt. Sein Geist schwebte einen
Meter über seinem Kopf und beobachtete gelassen, wie Norman
sich nach vorne beugte und die Zähne in die Schulter von Miss
Punky-Grungy grub. Er saugte sich wie ein Egel an ihr fest und
trank ihr Blut, das durch die Haut quoll. Es schmeckte heiß und salzig, und als er in seine Hose ejakulierte, merkte er es kaum, ebenso
wenig wie er merkte, daß sie unter seiner schwieligen Handfläche
schrie.
14
    »Bleib bei deinen Patientinnen, bis ich Entwarnung gebe«,
sagte Gert zu Lana. »Und tu mir einen Gefallen - sprich mit niemand darüber, noch nicht. Deine Freundinnen sind heute
nicht die einzigen Frauen hier, die psychisch labil sind.«
»Ich weiß.«
    Gert drückte ihren Arm. »Alle s wird gut. Ich verspreche
es.«
»Okay, du mußt es am besten wissen.«
»Ja, klar, träum weiter. Aber ich weiß eines, er dürfte nicht
schwer zu finden sein, wenn er immer noch mit diesem Rollstuhl herumfährt. Aber wenn du ihn siehst, geh ihm aus dem
Weg. Hast du verstanden? Geh ihm aus dem Weg!«
Lana sah sie zutiefst erschrocken an. »Was hast du vor?«
»Pinkeln gehen, bevor ich an Harnvergiftung sterbe. Dann
gehe ich zum Wachpersonal und erzähle ihnen, daß ein
Mann im Rollstuhl versucht hat, mir die Handtasche zu entreißen. Und dann werden wir weitersehen, aber vor allen
Dingen müssen wir ihn von unserem Picknick fortschaffen.«
Rosie war nicht hier, sie hatte vielleicht eine Verabredung,
und Gert war noch nie in ihrem Leben für etwas so dankbar
gewesen. Sie war sein Zünder; wenn Rosie nicht da war, hatten sie eine Chance, ihn zu neutralisieren, bevor er Schaden
anrichten konnte.
»Soll ich auf dich warten, während du auf der Toilette
bist?« fragte Lana nervös.
»Ich komm schon zurecht.«
Lana betrachtete stirnrunzelnd den Weg, der durch das
Wäldchen führte. »Vielleicht warte ich trotzdem«, sagte sie.
Gert lächelte. »Okay. Dauert nicht lange, glaub mir.«
Sie hatte das Toilettenhäuschen fast erreicht, als ein
Geräusch sie aus ihren Gedanken riß: Jemand keuchte. Nein
- zwei Jemande. Ein Lächeln verzog Gerts großen Mund.
Jemand genoß hinter der Toilette ein kleines Nachmittagsvergnügen, wie es sich anhörte. Einen hübschen kleinen…
»Raus damit, du Miststück!«
Als Gert die Stimme hörte, so tief, daß es fast wie das Knurren eines Hundes klang, gefror ihr das Lächeln auf den Lippen.
»Sag mir, wo sie ist, aber sofort!«
15
    Gert lief so schnell um das quadratische Backsteingebäude
herum, daß sie gerade noch dem abgestellten Rollstuhl ausweichen und verhindern konnte, daß sie kopfüber

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