Das Bild
Karamelmasse.
Sie sah über die Schulter nach hinten, weil sie außer sich
vor Angst war, Bill könne verschwunden sein, und in einem
heimlichen Eckchen ihres Verstands und ihres Herzens war
sie überzeugt, daß er verschwunden wäre. Aber er war nicht
verschwunden. Er grinste sie an, hob eine Hand und winkte
ihr kurz zu. Sie hob auch die Hand und winkte zurück.
»Scheint ein netter Kerl zu sein«, sagte Gert.
»Ja«, stimmte Rosie zu, aber sie wollte nicht über Bill
reden, da die beiden Cops auf dem Vordersitz zweifellos
jedes Wort verfolgten, das sie sprachen. »Du hättest im Krankenhaus bleiben sollen. Dich untersuchen lassen, ob er dich
mit diesem Schockerding nicht verletzt hat.«
»Verdammt, das hat mir gut getan«, sagte Gert grinsend.
Sie trug einen blau-weiß gestreiften Morgenmantel des
Krankenhauses über ihrem zerrissenen Kleid. »Ich hab mich
zum erstenmal richtig wach gefühlt, seit ich 1974 beim Zeltlager der Baptisten meine Jungfernschaft verloren habe.«
Rosie versuchte ein entsprechendes Grinsen, brachte aber
nur ein klägliches Lächeln zustande. »Ich schätze, das war’s
mit dem Sommeranfangspicknick, oder?« fragte sie.
Gert sah verwirrt drein. »Was meinst du damit?«
Rosie betrachtete ihre Hände und stellte ohne Überraschung fest, daß sie zu Fäusten geballt waren. »Norman meine
ich. Das Stinktier beim Picknick. Ein großes, beschissenes
Stinktier.« Sie hörte das Wort, dieses beschissen, aus ihrem
Mund kommen, und konnte kaum glauben, daß sie es gesagt
hatte, besonders in einem Polizeiauto mit zwei Detectives auf
den Vordersitzen. Noch überraschter war sie, als ihre zur
Faust geballte linke Hand vorwärts schnellte und dicht über
der Fensterkurbel gegen die Türbespannung schlug.
Gustafson zuckte am Steuer leicht zusammen. Haie sah
sich mit ausdruckslosem Gesicht nach ihr um und wandte
sich wieder nach vorne. Möglicherweise flüsterte er seinem
Partner etwas zu. Rosie war nicht sicher, und es war ihr auch
egal.
Gert nahm ihre pochende Hand und versuchte wie eine
Masseurin, die einen verkrampften Muskel bearbeitet, die
Faust zu entspannen. »Schon gut, Rosie.« Sie sagte es leise,
aber ihre Stimme grollte wie ein großer Lastwagen im Leerlauf.
»Nein, es ist nicht gut!« schrie Rosie. »Es ist nicht gut, sag
das ja nicht!« Nun brannten ihr Tränen in den Augen, aber
das kümmerte sie auch nicht. Zum erstenmal, seit sie
erwachsen war, weinte sie vor Wut, nicht vor Scham oder
Angst. »Warum geht er nicht weg? Warum läßt er mich nicht
in Ruhe? Er schlägt Cindy zusammen, er verdirbt das Picknick … dieses Aas!« Sie versuchte, wieder gegen die Tür zu
schlagen, aber Gert hielt ihre Hand fest. »Normern, dieses
beschissene Aas!«
Gert nickte. »Ja. Norman, dieses beschissene Aas!«
»Er ist wie ein … ein Muttermal! Je mehr man reibt und es
loswerden will, desto dunkler wird es! Scheiß -Norman! Stinkender, verrückter Scheiß -Norman! Ich hasse ihn! Ich hasse
ihn!«
Sie verstummte und rang keuchend nach Luft. Ihr Gesicht
pochte, ihre Wangen waren naß von Tränen … und dennoch
fühlte sie sich nicht gerade schlecht.
Bill? Wo ist Bill?
Sie drehte sich um und war sicher, daß er diesmal verschwunden sein würde, aber er war da. Er winkte. Sie winkte
zurück, dann drehte sie sich etwas ruhiger wieder nach
vorne.
»Du bist wütend, Rosie. Du hast ein Recht, wütend zu sein.
Aber-«
»Oh, ich bin wütend, ganz recht.«
»- aber er hat uns den Tag nicht verdorben, weißt du.«
Rosie blinzelte. »Was? Aber wie können sie einfach weitermachen? Nach allem …«
»Wie konntest du einfach weitermachen, nachdem er dich
so oft geschlagen hatte?«
Rosie schüttelte nur den Kopf; sie verstand nicht.
»Teilweise ist es Ausdauer«, sagte Gert. »Teilweise einfach
schlichte, alte Starrköpfigkeit. Aber am meisten wollen
wir der Welt unser fröhliches Gesicht zeigen. Zeigen, daß wir
uns nicht einschüchtern lassen. Glaubst du, es ist das erstemal, daß so was passiert? Von wegen. Norman ist der
schlimmste, aber nicht der erste. Und wenn ein Stinktier
beim Picknick auftaucht und seinen Duft verspritzt, dann
wartet man eben, bis der Wind das schlimmste weggeblasen
hat, und macht weiter. Und das machen sie jetzt am Ettinger’s Pier, und nicht nur, weil wir einen bindenden Vertrag
mit den Indigo Girls unterschrieben haben. Wir machen weiter, weil wir uns selbst überzeugen müssen, daß wir unser
Leben nicht aus uns herausprügeln lassen … unser Recht auf
Leben. Oh, einige sind sicher
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