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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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grunzende Atemzüge, in denen tief drinnen ein Pfeifen verborgen war. Es war ein Geräusch, das
er normalerweise mit viel größeren Männern als Norman
Daniels in Verbindung gebracht hätte - Männern mit einem
Gewicht zwischen dreihundert und dreihundertfünfzig
Pfund.
Oder mit einem großen Tier.
Die schwarze Frau nahm langsam die Hand von Bills
Mund, dann standen sie da und horchten, wie die Kreatur
näherkam. Bill legte einen Arm um sie, und sie einen um ihn.
So standen sie da, und in Bill keimte die Gewißheit, daß Norman - oder was immer aus Norman geworden war - doch
nicht durch das Gebäude gehen würde. Er es würde hierher kommen und sie sehen. Er würde einen Moment mit den
Hufen scharren, den Kopf senken, und dann würde er sie
diesen schmalen, hoffnungslosen Pfad hinunterjagen, sie
umstoßen, niedertrampeln, durchbohren.
»Pssssst…« hauchte sie.
»Norman, du Idiot…«
Der Ruf schwebte wie Rauch zu ihnen, wie Mondschein.
»Du bist so ein Dummkopf… hast du wirklich geglaubt, du
könntest mich erwischen? Dummer alter Stier!«
Schrilles, spöttisches Gelächter ertönte. Bill mußte an berstendes Glas und offene Brunnen und leere Zimmer um Mitternacht denken, als er es hörte. Er erschauerte und spürte
Gänsehaut auf den Armen.
Vor dem Tempel herrschte vorübergehend Schweigen (nur
ganz kurz vom Hauch einer Brise unterbrochen, die den
Dornbusch bewegte wie eine Hand, die durch verfilztes
Haar streicht) und Stille dort, wo Rosie nach ihm gerufen
hatte. Am Himmel verschwand die knochige Scheibe des
Mondes hinter einer Wolke und färbte deren Ränder silbern
ein. Der Himmel war mit Sternen übersät, aber Bill kannte
kein einziges Sternbild. Dann:
»Norrr-mannnn … willst du nicht mit mir reeeeden?«
»Oh, ich werde mit dir reden«, antwortete Norman Daniels, und Bill spürte, wie die schwarze Frau sich überrascht an
ihn preßte, während sein Herz ihm ebenfalls bis zum Hals
schlug. Die Stimme war keine zwanzig Meter entfernt. Es
war, als hätte sich Norman absichtlich so unbeholfen bewegt,
damit sie sein Vorankommen mitverfolgen konnten, und als
es ihm besser in den Kram paßte, still zu sein, war er vollkommen still geworden. »Ich werde ganz aus der Nähe mit dir
reden, du Fotze!«
Die schwarze Frau legte ihm einen Finger auf die Lippen,
damit er den Mund hielt, aber Bill hatte den Hinweis gar
nicht nötig. Ihre Blicke trafen sich, und Bill stellte fest, daß
auch die schwarze Frau nicht mehr sicher war, daß Norman
den Weg durch das Gebäude wählen würde.
Das Schweigen zog sich in die Länge und schien eine
Ewigkeit zu dauern. Selbst Rosie schien zu warten.
Dann ergriff Norman ein Stück weiter weg das Wort.
»Buh, du alter Hurensohn«, sagte er. »Was machst du denn
hier?«
Bill sah die schwarze Frau an. Sie schüttelte leicht den
Kopf, um ihm zu sagen, daß sie auch nicht verstand, was er
meinte. Im nächsten Moment machte Bill eine schreckliche
Feststellung: Er mußte husten. Das trockene Kribbeln am
Gaumen war fast unerträglich. Er vergrub den Mund in der
Armbeuge und versuchte, den Hustenreiz zu unterdrücken,
während er die besorgten Blicke der Frau auf sich spürte.
Ich kann es nicht lange zurückhalten, dachte er. Herrgott, Norman, warum machst du nicht voran? Du warst doch die ganze Zeit
so schnell.
Gleichsam als Antwort auf diesen Gedanken: »Norrrmunnnnl Du bist so verdammt LANGSAM, Norrr-munnnn!«
»Miststück«, sagte die belegte Stimme auf der anderen
Seite des Tempels. »Oh, du elendes Miststück!«
Schuhe knirschten auf verfallenem Stein. Einen Augenblick hörte Bill Schritte, die sich entfernten, und ihm wurde
klar, daß sich Norman in dem Gebäude befand, das die
schwarze Frau Tempel genannt hatte. Und noch etwas fiel
ihm auf: Der Hustenreiz war weg, zumindest vorläufig.
Er beugte sich dicht zu der Frau im blauen Kleid und flüsterte ihr ins Ort: »Was machen wir jetzt?«
Ihre geflüsterte Antwort kitzelte ihn am Ohr: »Warten.«
    Als Normern feststellte, daß die Maske mit seiner Haut verwachsen
zu sein schien, machte ihm das einen Moment ziemliche Angst,
aber bevor diese Angst in Panik umschlagen konnte, sah er nicht
weit entfernt etwas, das ihn völlig von der Maske ablenkte. Er eilte
ein Stück den Hang hinunter und kniete sich nieder. Er hob den
Pullover auf, betrachtete ihn, warf ihn zur Seite. Dann griff er nach
der Jacke. Es war tatsächlich die, die sie getragen hatte. Eine Motorradjacke. Der Kerl hatte eine Schüssel, und sie war mit ihm gefahren und hatte

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