Das Bild
sie stieß
seine Hand ungeduldig weg und warf ihm einen warnenden
Blick zu. Er wich vor ihr zurück, wie »Wendy Yarrow« es
getan hatte.
»Das ist der einzige Weg, und es ist der richtige Weg.
Außerdem…« Sie sah »Wendy« mit einem Anflug von Unsicherheit an. »Ich werde nichts wirklich tun müssen, oder
doch?«
»Nein«, sagte die Frau im blauen Gewand. »Die Herrin
wird alles tun. Wenn du ihr in den Weg kommen würdest wenn du auch nur versuchst, ihr bei ihrer Aufgabe zu helfen -, würde sie dich unglücklich machen. Du mußt nur tun,
was nach Meinung dieses Dreckskerls da oben alle Frauen
sowieso tun.«
»Ihn an der Nase herumführen«, murmelte Rosie, deren
Augen im silbernen Mondlicht schwammen.
»Ganz recht«, antwortete die andere. »Ihn an der Nase herumführen.«
Rosie holte tief Luft und rief ihn noch einmal, spürte den
Armreif wie ein seltsames, berauschend köstliches Feuer auf
ihrer Haut brennen, genoß den Klang ihrer Stimme, so laut,
wie ihr Kriegsruf der Texas Rangers im Labyrinth unten, mit
dem sie das Baby wieder zum Schreien gebracht hatte. »Hiiiiier uuuuuu-huunten, Norman!«
Bill starrte sie an. Erschrocken. Sie wollte diesen Gesichtsausdruck nicht sehen, aber gleichzeitig wollte sie ihn doch sehen. Sie wollte es. Er war ein Mann, oder nicht? Und
manchmal mußten Männer lernen, wie es ist, vor einer Frau
Angst zu haben, richtig? Manchmal war das der einzige
Schutz, den eine Frau hatte.
»Und jetzt geh«, sagte die schwarze Frau. »Ich bleibe mit
deinem Mann hier. Wir sind in Sicherheit. Der andere wird
durch den Tempel gehen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es, weil sie es immer tun«, antwortete die
schwarze Frau schlicht. »Vergiß nicht, was er ist.«
»Ein Stier.«
»Das stimmt; ein Stier. Und du bist die Jungfrau, die mit
dem Seidenhut winkt, um ihn anzulocken. Vergiß nur nicht,
wenn er dich erwischt, sind keine ‘/alias da, die ihn ablenken
können. Wenn er dich erwischt, tötet er dich. Das steht fest.
Es gibt nichts, was ich oder meine Herrin tun könnten, um
ihn daran zu hindern. Er will seinen Mund mit deinem Blut
füllen.«
Das weiß ich besser als du, dachte Rosie. Ich weiß es
schon seit Jahren.
»Geh nicht, Rosie«, sagte Bill. »Bleib hier bei uns.«
»Nein.«
Sie drängte sich an ihm vorbei und spürte, wie eine der
Dornen ihr den Oberschenkel aufkratzte; der Schmerz tat ihr
so wohl, wie der Aufschrei vorhin. Sogar das Kitzeln des Blutes, das an ihrem Schenkel hinunterrann, war angenehm.
»Kleine Rosie.«
Sie drehte sich um.
»Am Ende mußt du ihm voraus sein. Du weißt, warum?«
»Ja, natürlich.«
»Was hast du gemeint, als du gesagt hast, er ist ein Stier?«
fragte Bill. Er hörte sich besorgt an, mürrisch … und doch
hatte Rosie ihn nie mehr geliebt, als in diesem Augenblick,
und sie glaubte nicht, daß sie ihn je wieder mehr lieben
könnte. Sein Gesicht war so blaß und schien so schutzlos.
Er fing wieder an zu husten. Rosie legte ihm eine Hand auf
den Arm und hatte schreckliche Angst, er könnte ängstlich
vor ihr zurückweichen, aber er tat es nicht. Jedenfalls noch
nicht.
»Bleib hier«, sagte sie. »Bleib hier und verhalte dich vollkommen ruhig.« Dann eilte sie davon. Im Mondschein sah er
einmal am anderen Ende des Tempels, wo der Weg breiter zu
werden schien, einen Zipfel ihres Chitons flattern, dann war
sie fort.
Einen Augenblick später erschallte ihr Ruf wieder in der
Nacht, unbekümmert und doch irgendwie ehrfurchtgebie tend:
»Norman, du siehst so albern mit dieser Maske aus …« Eine
Pause, und dann: »Ich hab keine Angst mehr vor dir, Norman…«
»Herrgott, er wird sie umbringen«, murmelte Bill.
»Vielleicht«, antwortete die Frau im blauen Kleid. »Jemand wird heute nacht sterben, das steht …« Da verstummte sie
und legte den Kopf schief; ihre glänzenden Augen wurden
groß.
»Was haben S -«
Eine braune Hand schnellte vor und hielt ihm den Mund
zu. Die Hand drückte nicht fest zu, aber Bill hatte den Eindruck, daß sie es könnte; sie schien voller Stahlfedern zu sein.
Eine quälende Ahnung, fast eine Gewißheit, kam über ihn,
als er ihre Handfläche auf seinen Lippen und ihre Fingerkuppen auf der Wange spürte: Dies war kein Traum. So sehr
er es auch glauben wollte, er konnte es einfach nicht.
Die schwarze Frau stellte sich auf Zehenspitzen, drückte
sich wie eine Geliebte an ihn und hielt ihm den Mund zu.
»Psst«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Er kommt.«
Jetzt konnte er das Rascheln von Gras und Laub hören,
und dann schwere,
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