Das Bild
Hang hinunter zum
Tempel des Stiers (es war wirklich erstaunlich, wie ihr alles
wieder einfiel, dachte Rosie, wie die Einzelheiten eines
immer wiederkehrenden Traums). Ihre Schatten begleiteten
sie wie die Schatten von Frauen, die gefoltert und auf einer
Streckbank in die Länge gezogen worden waren. Das
Gebäude ragte über ihnen auf - schien sich zu ihnen zu neigen -, als wäre es lebendig und hungrig. Rosie war zutiefst
dankbar, als »Wendy« sich nach rechts wandte und sie zur
Seite des Tempels führte.
Hinter dem Tempel hing der andere Zat an den Zweigen
eines Dornbuschs wie ein Kleidungsstück am Haken. Rosie
betrachtete ihn mit Mißfallen, aber nicht besonders überrascht. Es war ein dunkelroter Chiton, das exakte Gegenstück dessen, den die Frau mit der angenehmen, irren
Stimme getragen hatte.
»Zieh das an«, sagte die schwarze Frau.
»Nein«, sagte Rosie kläglich. »Nein, ich habe Angst.«
»KOMM ZURÜCK, ROSE!«
Bill zuckte zusammen, als er diese Stimme hörte, und
drehte mit aufgerissen Augen, so blasser Haut, daß man
nicht nur das Mondlicht dafür verantwortlich machen
konnte, und bebenden Lippen den Kopf herum. Rosie hatte
auch Angst, verspürte aber zugleich den Zorn darunter, wie
ein großer Hai, der unter einem kleinen Boot kreist. Sie hatte
sich verzweifelt an die Hoffnung geklammert, daß Norman
ihnen nicht folgen konnte, daß das Bild irgendwie hinter
ihnen zuschnappen würde. Jetzt wußte sie, daß diese Hoffnung vergeblich war. Er würde das Bild finden und bald bei
ihnen in dieser Welt sein, wenn er es nicht schon war.
»KOMM ZURÜCK, DU MISTSTÜCK!«
»Zieh ihn an«, wiederholte die Frau.
»Warum?« fragte Rosie, hatte aber mit den Händen schon
ihre Bluse gepackt und zog sie über den Kopf. »Warum muß
ich ihn anziehen?«
»Weil sie es so will, und was sie will, das bekommt sie
auch.« Die schwarze Frau sah Bill an, der Rosie anstarrte.
»Dreh dich um«, sagte sie zu ihm. »In deiner Welt kannst du
sie nackt ansehen, bis dir die Augen rausfallen, aber nicht in
meiner. Dreh dich um, wenn du weißt, was gut für dich ist.«
»Rosie?« sagte Bill unsicher. »Das ist ein Traum, oder?«
»Ja«, sagte sie mit einer Kälte in der Stimme - einer Art
spontaner Berechnung -, die sie nie zuvor gehört hatte. »Ja,
ganz recht. Tu, was sie sagt.«
Er drehte sich so unvermittelt um wie ein Soldat, der eine
Kehrtwendung macht. Nun sah er den schmalen Pfad, der
zur Rückseite des Gebäudes führte.
»Nimm diesen Tittenpanzer ab«, sagte die schwarze Frau
und stieß ungeduldig mit dem Daumen gegen Rosies
Büstenhalter. »Das kannst du nicht unter einem Zat tragen.«
Rosie hakte den BH auf und zog ihn aus. Dann schlüpfte
sie aus den zugeschnürten Turnschuhen und streifte die
Jeans ab. Sie stand in ihrer schlichten weißen Unterhose da
und sah »Wendy« fragend an. »Wendy« nickte.
»Ja, das auch.«
Rosie zog die Unterhose aus und nahm vorsichtig das
Gewand - den Zat von dem Dornbusch. Die schwarze Frau
kam näher und half ihr.
»Ich weiß, wie man das anzieht, gehen Sie mir aus dem
Weg!« fauchte Rosie sie an und zog den Chiton wie ein Hemd
über den Kopf.
»Wendy« betrachtete sie mit abschätzendem Blick und
unternahm keinen Versuch mehr, sich einzumischen, nicht
einmal, als Rosie kurz Schwierigkeiten mit dem Träger des Zat hatte. Als sie das Gewand angezogen hatte, war Rosies
rechte Schulter entblößt und der goldene Armreif prangte
über ihrem linken Ellbogen. Sie war zum Ebenbild der Frau
in dem Gemälde geworden.
»Du kannst dich jetzt umdrehen, Bill«, sagte Rosie.
Er gehorchte. Er sah sie von oben bis unten an, und seine
Augen blieben einen oder zwei Momente an den Umrissen
ihrer Brustwarzen unter dem fein gewobenen Stoff hängen.
Rosie störte es nicht. »Du siehst wie ein anderer Mensch
aus«, sagte er schließlich. »Ein gefährlicher Mensch.«
»So ist das nunmal in Träumen«, sagte sie und hörte wieder
Kälte und Berechnung in ihrer Stimme. Sie haßte diesen
Unterton… aber zugleich gefiel er ihr. Er gefiel ihr sogar sehr.
»Muß ich dir sagen, was du zu tun hast?« fragte die
schwarze Frau.
»Nein. Natürlic h nicht.«
Rosie hob die Stimme, und der Schrei, der aus ihrem Mund
drang, war melodisch und wild, überhaupt nicht ihre
Stimme, sondern die Stimme der anderen… aber es war auch
ihre Stimme; sie war es.
»Norman!« rief sie. »Norman, ich bin hier unten!«
»Herr im Himmel, Rosie, nein!« keuchte Bill. »Bist du
wahnsinnig?«
Er versuchte, sie an den Schultern zu halten, aber
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