Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Ton
herausbringen, wenn sie sich gesetzt hatte, nicht einmal ein
trockenes Krächzen.
In diesem Moment sah Rosie alles zusammenbrechen, was
sie sich aufgebaut hatte - es raste vor ihrem geistigen Auge
mit der alptraumhaften Geschwindigkeit eines alten Keystone-Kops-Kurzfilms vorüber. Sie sah vor sich, wie sie aus
dem hübschen Zimmer hinausgeworfen wurde, in dem sie
erst seit vier Tagen wohnte, wenn ihre minimalen Geldreserven zu Ende gingen, und sah, wie ihr alle bei Daugthers and
Sisters die kalte Schulter zeigten, sogar Anna selbst.
Ich kann dir ja schlecht dein altes Zimmer wiedergeben, oder? hörte sie Anna in ihrem Kopf sagen. Es kommen immer neue
Mädchen hierher zu D&S, wie du selbst sehr gut weißt, und denen
muß meine erste Sorge gelten. Warum warst du so dumm, Rosie?
Wie konntest du nur auf die Idee kommen, daß je eine Darstellerin aus dir werden könnte, und sei es nur auf diesem bescheidenen
Niveau? Sie sah, wie sie in den Cafes der Innenstadt abgewiesen wurde, wo sie sich als Kellnerin bewarb, nicht wegen
ihres Aussehens, sondern wegen ihres Geruchs nach Nie derlage, Scham und enttäuschten Erwartungen.
»Rosie?« Das war Rob Lefferts. »Würden Sie sich bitte setzen, damit Curt eine Probe machen kann?«
Er wußte es nicht, die Männer wußten es beide nicht, aber
Rhoda Simons wußte es… oder vermutete es wenigstens. Sie
hatte den Bleistift genommen, der in ihrem Haar steckte, und
kritzelte auf einem Block, der vor ihr lag. Sie sah jedoch nicht
an, was sie kritzelte; sie sah Rosie an und hatte die Stirn
gerunzelt.
Plötzlich merkte Rosie wie eine Ertrinkende, die nach
jedem beliebigen Stück Treibgut greift, das sie noch einen
Moment über Wasser halten könnte, wie sie an das Bild
dachte. Sie hatte es genau dort aufgehängt, wo Anna vorgeschlagen hatte, neben dem Fenster im Wohnzimmerbereich dort hatte sogar noch ein Nagel in der Wand gesteckt, den
der Vormieter zurückgelassen hatte. Es war der perfekte
Platz dafür, besonders am Abend; man konnte eine Weile
zum Fenster hinausschauen, wenn die Sonne über dem
grün-schwarzen Baumbestand des Bryant Park unterging,
dann das Bild betrachten, und dann wieder den Park. Beides
schien perfekt zusammenzupassen, Fenster und Bild, Bild
und Fenster. Sie wußte nicht, warum das so war, aber es war
so. Aber wenn sie das Zimmer verlor, würde sie auch das
Bild abhängen müssen…
Nein, es muß dort bleiben, dachte sie. Es gehört dorthin!
Das verlieh ihr endlich Flügel. Sie ging langsam zum Tisch,
legte ihr Skript (es handelte sich um die vergrößerten Fotokopien der Seiten eines Taschenbuchs, das 1951 veröffentlicht worden war) vor sich und nahm Platz. Nur kam es ihr
eher so vor, als fiele sie, als wären ihre Knie von Bolzen gehalten worden, die gerade jemand herausgezogen hatte.
Du kannst es, Rosie, versicherte ihr die tiefe Stimme, aber
jetzt klang ihre Zuversicht gezwungen. Du hast es an der
Straßenecke vor der Pfandleihe geschafft, und du kannst es
auch
hier.
Es überraschte sie nicht besonders, daß sie davon nicht
überzeugt war. Aber der anschließende Gedanke überraschte sie: Die Frau in dem Bild hätte keine Angst; die Frau in
dem dunkelroten Chiton hätte vor diesem Klacks überhaupt keine
Angst.
Der Gedanke war natürlich lachhaft; wenn es die Frau in
dem Bild gegeben hätte, dann hätte sie in einer antiken Welt
gelebt, wo Kometen als Vorboten von Unheil angesehen
wurden, wo man glaubte, daß Götter auf Berggipfeln wohnten, und wo die meisten Leute lebten und starben, ohne
jemals ein Buch zu sehen. Wenn die Frau von damals in diesen Raum versetzt werden würde, in einen Raum mit Glaswänden und kaltem Licht und einem Schlangenkopf aus
Stahl, der aus dem einzigen Tisch herausragte, würde sie entweder schreiend zur Tür laufen oder gleich das Bewußtsein
verlieren.
Aber Rosie hatte eine Ahnung, als hätte die Frau in dem
dunkelroten Chiton in ihrem ganzen Leben nie das Bewußtsein verloren, als wäre wesentlich mehr als ein Tonstudio
erforderlich, um sie zum Schreien zu bringen.
Du denkst an sie, als gäbe es sie wirklich, sagte die tiefe Stimme.
Sie hörte sich nervös an. Bist du sicher, daß das klug ist?
Wenn es mir hilft, das hier durchzustehen, dann allerdings, dachte sie zurück.
»Rosie?« Es war die Stimme von Rhoda Simons, die aus
den Lautsprechern sprach. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, sagte sie und stellte erleichtert fest, daß ihre Stimme
doch noch da war, wenn auch etwas krächzend. »Ich habe
Durst, das ist alles. Und

Weitere Kostenlose Bücher