Das Bild
Anfall von Panik.
»Kapitel eins.
Nella bemerkte erst, daß der kleine Mann in dem zerschlissenen
grauen Mantel ihr folgte, als sie sich zwischen zwei Straßenlaternen befand und der Eingang einer abfallübersäten Gasse neben ihr
klaffte wie die Kiefer eines alten Mannes, der mit Essen im Mund
gestorben ist. Aber da war es zu spät. Sie hörte das Geräusch von
Schuhen mit Stahlkappen an den Absätzen hinter sich näherkommen, und eine große, schmutzige Hand schoß aus der Dunkelheit
hervor…«
3
Rosie steckte an diesem Abend um Viertel nach sieben den
Schlüssel ins Schloß ihrer Wohnungstür in der Trenton Street.
Sie war müde und verschwitzt - der Sommer war in diesem
Jahr früh über die Stadt hereingebrochen -, aber gleichzeitig
sehr glücklich. In einem Arm trug sie eine Tüte Lebensmittel.
Eine Anzahl gelber Handzettel ragte daraus hervor, Werbung für das Sommeranfangs-Picknick und
-Konzert von
Daughters and Sisters. Rosie hatte bei D & S vorbeigeschaut
und berichtet, wie ihr erster Tag bei der Arbeit gelaufen war
(sie war förmlich damit herausgeplatzt), und als sie ging,
hatte Robin St. James sie gefragt, ob sie nicht eine Handvoll
Flugblätter mitnehmen und versuchen wollte, sie bei den
Händlern in ihrem Viertel auszulegen. Rosie, die sich größte
Mühe gab, sich nicht anmerken zu lassen, wie stolz sie war
überhaupt »ein Viertel« zu haben, willigte ein, so viele mitzunehmen, wie sie konnte.
»Du rettest mir das Leben«, sagte Robin. Sie war in diesem
Jahr für den Kartenverkauf zuständig und machte kein Hehl
aus der Tatsache, daß sie bis jetzt keinen besonders großen
Zuspruch hatten. »Und wenn dich jemand fragt, Rosie, dann
sag ihnen, daß sich hier keine ausgerissenen Teenager aufhalten und wir keine Lesben sind. Diese Gerüchte sind das
halbe Problem beim Kartenverkäufen. Machst du das?«
»Klar«, hatte Rosie geantwortet, aber genau gewußt, daß
sie das nicht tun würde. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß
sie einem Händler, den sie vorher noch nie gesehen hatte,
einen Vortrag darüber halten würde, was es mit Daughters
and Sisters auf sich hatte … und was nicht.
Aber ich kann sagen, daß sie nette Frauen sind, dachte sie,
schaltete den Ventilator in der Ecke ein und machte den
Kühlschrank auf, um ihre Lebensmittel zu verstauen. Dann
sagte sie laut: »Nein, ich werde sagen Ladies. Nette Ladies.«
Klar, das wäre wahrscheinlich besser. Männer - besonders
die über Vierzig
- fanden dieses Wort aus unerfindlichen
Gründen ansprechender als Frauen. Es war albern (und das
Theater, das manche Frauen wegen mancher Ausdrücke
machten, war Rosies Meinung nach noch alberner), aber als
sie darüber nachdachte, fiel ihr plötzlich wieder etwas ein:
Noman hatte manchmal über die Prostituierten gesprochen,
die er verhaftete. Er nannte sie nie Ladys (dieses Wort
gebrauchte er, wenn er von den Frauen seiner Kollegen
erzählte, zum Beispiel: »Bill Jessups Frau ist eine richtige
nette Lady«); er nannte sie auch nie Frauen. Er nannte sie
Schnallen. Die Schnallen hier und die Schnallen da. Bis zu
diesem Augenblick war ihr nie klar geworden, wie sehr sie
dieses Wort mit seinem harten, kehligen Klang verabscheute. Schnallen. Als wäre man kurz davor, sich zu übergeben.
Vergiß ihn, Rosie, er ist nicht hier. Er wird auch nicht hierher kommen.
Wie immer erfüllte dieser Gedanke sie mit Freude, Staunen und Dankbarkeit. Man hatte ihr gesagt - vor allem in den
Gruppensitzungen bei D & S -, daß diese Gefühle vorübergehen würden, aber das konnte sie kaum glauben. Sie war
unabhängig. Sie war dem Ungeheuer entkommen. Sie war
frei.
Rosie schlug die Kühlschranktür zu, drehte sich um und
sah durch das Zimmer. Es war sparsam möbliert und - abgesehen von ihrem Bild - praktisch schmucklos, trotzdem hätte
sie vor Freude jubilieren können. Diese hübschen beigen
Wände hatte Norman Daniels nie gesehen; aus diesem Sessel
hatte Norman Daniels sie nie gestoßen, weil sie »vorlaut«
gewesen war; Norman Daniels hatte nie in diesen Fernseher
geschaut, über die Nachrichten geschimpft oder über eine
Wiederholung von AU in the Family oder Cheers gelacht. Am
besten aber war, es gab keine einzige Ecke, wo sie weinend
gehockt und sich gesagt hatte, daß sie sich in ihre Schürze
erbrechen müßte, wenn ihr schlecht wurde. Denn er war
nicht hier. Und er würde nicht hierherkommen.
»Ich bin frei«, murmelte Rosie … und dann umarmte sie
sich tatsächlich selbst vor Freude.
Sie ging durch das Zimmer zu dem
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