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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Bild. Der Chiton der
blonden Frau schien im Licht der Frühlingssonne förmlich
zu leuchten. Und sie war eine Frau, dachte Rosie, keine Lady,
und mit Sicherheit keine Schnalle. Sie stand oben auf ihrem
Hügel und sah furchtlos hinab zu dem verfallenen Tempel
und den umgestürzten Göttern …
Göttern? Aber es ist nur einer… oder nicht?
Nein, sah sie jetzt, in Wirklichkeit waren es zwei - der eine,
der neben der umgestürzten Säule gelassen zum bewölkten
Himmel hinauf sah, und dann noch einer, ziemlich weit
rechts. Der sah seitlich durch das hohe Gras. Man konnte
gerade noch die weiße Wölbung der steinernen Stirn erkennen, das Rund eines Auges und ein Ohrläppchen; der Rest
war verborgen. Sie hatte den Burschen bis jetzt nicht bemerkt - und wenn schon? Wahrscheinlich hatte sie eine
Menge in dem Bild noch nicht bemerkt, viele kleine Details es war wie eines dieser Suchbilder, voll mit Einzelheiten, die
einem auf den ersten Blick gar nicht auffielen, und …
… und das war Quatsch. Das Bild war im Grunde genommen ganz einfach.
»Nun«, flüsterte Rosie, »das war es.«
Sie mußte an Cynthias Geschichte von dem Bild im Pfarrhaus denken, wo sie aufgewachsen war … »DeSoto schaut
nach Westen.« Wie Cynthia stundenlang davor saß, wie vor
dem Fernseher, um zu sehen, ob sich der Fluß bewegte.
»Sie hat so getan, als ob der Fluß sich bewegt«, sagte Rosie,
schob das Fenster hoch und hoffte, daß ein Lüftchen durch
das Apartment wehen würde. Die piepsigen Stimmen kleiner Kinder auf dem Spielplatz und größerer auf dem Baseballfeld drangen herein. »Sie hat so getan, das ist alles. Das
haben Kinder so an sich. Hab ich auch gemacht.«
Sie klemmte einen Stock in das Fenster - wenn man das
nicht tat, blieb es eine Weile oben und sauste dann mit Karacho herunter - und betrachtete wieder das Bild. Ein unheimlicher Gedanke, so nachdrücklich, daß er zur Gewißheit
wurde, war ihr plötzlich gekommen. Die Falten in dem dunkelroten Gewand waren nicht mehr dieselben. Sie hatten sich
verändert. Sie hatten sich verändert, weil die Frau in dem
Gewand sich bewegt hatte.
»Du hast den Verstand verloren, wenn du das annimmst«,
flüsterte Rosie. Ihr Herz klopfte. »Du bist vollkommen irr geworden. Das ist dir doch klar, oder nicht?«
Es war ihr klar. Trotzdem ging sie ganz dicht an das Bild
heran und betrachtete es eingehend. In dieser Haltung blieb
sie fast dreißig Sekunden, die Augen keine fünf Zentimeter
von der gemalten Frau auf dem Hügel entfernt, und hielt den
Atem an, damit das Glas vor dem Bild nicht beschlug.
Schließlich wich sie zurück und ließ mit einem Seufzer, der
fast Erleichterung ausdrückte, die Luft aus ihren Lungen entweichen. Die Falten in dem Chiton hatten sich kein bißchen
verändert. Sie war ganz sicher. (Nun, fast sicher.) Ihre Phantasie spielte ihr nach einem langen Tag Streiche - einem Tag,
der wunderbar und schrecklich anstrengend zugleich gewesen war.
»Ja, aber ich hab ihn überstanden«, sagte sie zu der Frau in
dem Chiton. Es kam ihr bereits vollkommen normal vor, mit
der Frau in dem Bild zu reden. Vielleicht ein wenig exzentrisch, na und? Wem schadete es? Wer wußte es schon? Und
daß die Frau ihr den Rücken zukehrte, machte es irgendwie
leichter zu glauben, daß sie wirklich zuhörte.
Rosie ging ans Fenster, stützte sich mit den Händen auf
dem Sims ab und sah hinaus. Auf der anderen Straßenseite
liefen Kinder zu den Schlagmalen oder stießen sich mit den
Schaukeln ab. Direkt unter ihr hielt ein Auto am Bordstein.
Früher einmal hätte der Anblick eines einparkenden Autos
sie in Todesangst versetzt und ihr Visionen von Normans
Faust und Normans Ring beschert, der auf sie zugeschossen
kam, während die Worte Hilfsbereitschaft, Loyalität und Kameradschaft immer größer wurden, bis die ganze Welt nur noch
aus ihnen zu bestehen schien … aber diese Zeit war vorbei.
Gott sei Dank.
»Eigentlich habe ich ihn nicht nur überstanden«, erzählte
sie dem Bild. »Ich glaube, ich habe meine Sache ziemlich gut
gemacht. Robbie hat es gewußt, glaube ich, aber Rhoda
mußte ich wirklich überzeugen. Ich glaube, sie wollte mich
eigentlich nicht haben, weil Robbie mich entdeckt hatte, weißt
du?« Sie drehte sich wieder zu dem Bild um, wie eine Frau
sich einer Freundin zuwendet, deren Gesicht sie entnehmen
will, was sie von einem Einfall oder einer Ansicht hält, aber
die Frau in dem Bild sah selbstverständlich nach wie vor den
Hügel hinab zu dem verfallenen Tempel, kehrte Rosie den
Rücken zu

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