Das Bild
Buttermesser heraus
und näherte die Schneide langsam dem braunen Packpapier.
Tu es nicht! kreischte Ms. Praktisch-Vernünftig. Laß es sein
Rosie, du hast keine Ahnung, was da rauskommen könntel
Sie verweilte einen Moment mit der Messerspitze an dem
braunen Papier, dann legte sie es vorerst einmal beiseite. Sie
hob das Bild, betrachtete den unteren Rahmen und stellte mit
einem distanzierten Teil ihres Verstandes fest, daß ihre
Hände inzwischen ziemlich heftig zitterten. Sie war im
Grunde genommen nicht überrascht von dem, was sie sah einen Riß im Holz, der an seiner dicksten Stelle mindestens
sechs bis sieben Millimeter breit war. Sie stellte das Bild wie der auf den Tresen, hielt es mit der rechten Hand fest und
führte mit der linken - ihrer klugen Hand - die Messerspitze
wieder an das braune Packpapier.
Nicht, Rosie. Ms. Praktisch-Vernünftig kreischte diesmal
nicht; sie schluchzte. Bitte tu es nicht, bitte laß es gut sein. Aber
das war ein lächerlicher Rat, wenn man darüber nachdachte;
wenn sie ihn beim erstenmal befolgt hätte, als sich Ms. P-V
zu Wort gemeldet hatte, würde sie immer noch bei Norman
leben. Oder bei ihm sterben.
Sie schlitzte das Papier mit dem Messer an der Stelle auf,
wo sie die Unebenheiten spürte. Ein halbes Dutzend Grillen
purzelten auf den Tresen, vier tot, eine kläglich zappelnd, die
sechste lebendig genug, daß sie auf die Arbeitsplatte hüpfen
konnte, bevor sie ins Spülbecken fiel. Zusammen mit den
Grillen fielen auch ein paar pinkfarbene Kleeblüten heraus,
ein paar Grashalme … und ein Teil eines trockenen braunen
Blatts. Rosie hob es auf und betrachtete es neugierig. Es war
ein Eichenblatt. Sie war fast sicher.
Rosie arbeitete gründlich (und achtete nicht auf die
Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig) und schnitt mit dem
Messer einmal ganz um den Rand des Rahmens herum
durch das Packpapier. Als sie es entfernte, fielen weitere
Schätze heraus: Ameisen (fast alle tot, nur zwei oder drei
konnten noch krabbeln), der plumpe Kadaver einer Biene,
mehrere Blütenblätter eines Gänseblümchens, die man
abzupfen sollte, während man »Er liebt mich, er liebt mich
nicht« sang … und ein paar dünne weiße Haare. Diese hielt
sie ans Licht und umklammerte das umgedrehte Bild fester
mit der rechten Hand, während ihr ein Schauer über den
Rücken lief wie große Füße, die eine Treppe hochgingen.
Rosie wußte genau, was ihr ein Tierarzt sagen würde, wenn
sie die Haare zu ihm brächte, damit er sie sich unter dem
Mikroskop ansah; es waren Roßhaare. Genauer gesagt die
Haare eines kleinen, zotteligen Pferdes. Eines Pferdes, das
momentan in einer anderen Welt Gras fraß.
Ich verliere den Verstand, dachte sie ruhig, und das war nicht
die Stimme von Ms. Praktisch-Vernünftig; das war ihre
eigene Stimme, die für den zentralen, pragmatischen Kern
ihrer Gedanken und ihrer Persönlichkeit sprach. Sie hörte
sich nicht hysterisch oder zickig an; sie sprach vernünftig,
ruhig und mit einem erstaunten Unterton. Es war, vermutete
sie, derselbe Tonfall, mit dem ihr Verstand den unausweichlichen Tod zur Kenntnis nehmen würde, wenn seine Ankunft
sich nicht länger leugnen ließe.
Aber sie glaubte nicht, daß sie den Verstand verlor, nicht so,
wie sie gezwungen wäre, an den Tod infolge, sagen wir, einer
Krebserkrankung zu glauben, wenn sie ein bestimmtes Stadium erreicht hätte. Sie hatte die Rückseite ihres Bildes aufgeschnitten, und Gras, Haare und Insekten - manche noch
am Leben - waren herausgefallen. War das so schwer zu
glauben? Vor ein paar Jahren hatte sie in der Zeitung einen
Artikel über eine Frau gelesen, die ein kleines Vermögen in
Aktien in der Rückseite eines alten Familienporträts versteckt gefunden hatte; dagegen nahmen sich ein paar Insekten kümmerlich aus.
Aber lebende, Rosie? Und was ist mit der Kleeblüte, die noch
frisch war, und dem grünen Gras? Das Blatt war vertrocknet, aber
du weißt ja, was du darüber denkst…
Sie dachte, daß es schon vertrocknet herübergeweht worden war. In dem Bild war es Sommer, aber man konnte schon
im Juni abgestorbenes Laub finden.
Also wiederhole ich: Ich verliere den Verstand.
Aber es war alles da, hier auf der Arbeitsplatte ihrer Kochnische, ein Durcheinander von Insekten und Gras.
Gegenstände.
Keine Träume oder Halluzinationen, sondern konkrete
Gegenstände.
Und da war noch etwas, worüber sie eigentlich lieber nicht
nachdenken wollte. Das Bild hatte zu ihr gesprochen. Nein,
nicht laut, aber von dem Augenblick an, als sie es
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