Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
unter der Tür durchgeschlüpft, na
und? Sie konnte sich weniger angenehme ungebetene Gäste
vorstellen.
Als wollte sie dem zustimmen, hüpfte die Grille plötzlich
aus der Schüssel und wagte den Sprung.
»Schönen Tag noch«, sagte Rosie. »Kannst gern wieder
reinschauen. Jederzeit.«
Als sie die Schüssel wieder an ihren Platz trug, wehte ihr
ein sanfter Windstoß den Zettel des Wal-Mart aus der Hand,
der träge zu Boden flatterte. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, doch als ihre Finger noch einen Zentimeter davon entfernt waren, erstarrte sie. Zwei Grillen, beide tot, lagen an
der Sockelleiste, eine auf der Seite, die andere mit in die Luft
gestreckten Beinchen auf dem Rücken.
Eine Grille hätte sie verstehen und akzeptieren können,
aber drei? In einem Zimmer im ersten Stock? Wie sollte man
das erklären?
Und jetzt sah Rosie noch etwas, das ganz in der Nähe der
toten Grillen in einer Fuge zwischen zwei Bodendielen lag.
Sie kniete hin, fischte es aus der Fuge und hielt es sich vor die
Augen.
Es war eine Kleeblüte. Eine kleine rosafarbene Kleeblüte.
Sie sah in die Fuge, aus der sie die Blüte gezogen hatte; sie
betrachtete noch einmal die beiden toten Grillen; dann wanderte ihr Blick langsam an der beigen Wand hinauf… zu
ihrem Bild, das dort neben dem Fenster hing. Zu Rose Madder (der Name war so gut wie jeder andere), die auf ihrem
Hügel stand, während das neu entdeckte Pferd hinter ihr
Gras fraß.
Rosie spürte deutlich ihren Herzschlag
- eine große
gedämpfte Trommel, die in ihren Ohren erklang -, als sie sich
zu dem Bild beugte, zum Maul des Pferdes, und sah, wie sich
das Bild in Schichten alter Farbe auflöste, wie die Pinselstriche sichtbar wurden. Unter dem Maul befanden sich die
waldgrünen und olivgrünen Töne des Grases, die der Künstler mit raschen, abwärts gerichteten Pinselstrichen aufgetragen zu haben schien. Rosafarbene Pünktchen waren dazwischen zu erkennen. Klee.
Rose betrachtete die winzige rosafarbene Blüte auf ihrer
Handfläche, dann hielt sie sie dicht an das Bild. Die Farbe
war exakt dieselbe. Plötzlich, und ganz ohne nachzudenken,
hob sie die Hand auf Höhe ihrer Lippen und blies die winzige Blüte zu dem Bild. Sie rechnete halb damit (nein, es war
mehr als das; einen Moment war sie felsenfest davon überzeugt), daß die kleine Blüte durch die Oberfläche des Bildes
schweben und in die Welt eindringen würde, die ein unbekannter Künstler vor sechzig, achtzig, möglicherweise hundert Jahren geschaffen hatte.
Natürlich passierte nichts dergleichen. Die rosafarbene
Blüte traf das Glas über dem Gemälde (ungewöhnlich, daß
ein Ölgemälde verglast wurde, hatte Robbie an dem Tag
gesagt, als sie ihn kennenlernte), prallte ab und schwebte zu
Boden wie ein einziges Kügelchen zusammengeknüllter
Zellstoff. Das Bild mochte vielleicht verzaubert sein, aber die
Glasscheibe davor eindeutig nicht.
Und wie sind die Grillen dann herausgekommen? Du glaubst
doch wirklich, daß es so gewesen ist, oder? Daß die Grillen und die
Kleeblüte irgendwie aus dem Bild herausgefallen sind?
Gott stehe ihr bei, aber das glaubte sie tatsächlich. Sie war
überzeugt, wenn sie dieses Zimmer verlassen hatte und
unter Menschen war, würde ihr der Gedanke vollkommen lächerlich vorkommen oder ganz verschwinden, aber
im Augenblick glaubte sie daran: Die Grillen waren aus
dem Gras unter den Füßen der blonden Frau in dem dunkelroten Chiton herausgehüpft. Irgendwie waren sie aus
der Welt von Rose Madder in die von Rosie McClendon
gehüpft.
Wie? Sind sie einfach irgendwie durch das Glas getropft!
Nein, selbstverständlich nicht. Das war albern, aber
Sie streckte ihre leicht zitternden Hände aus und nahm das
Bild von seinem Haken. Sie trug es in die Kochnische, stellte
es auf den Tresen und drehte es um. Die mit Kohle geschrie benen Worte auf der Rückseite waren verschmierter denn je;
sie wüßte nicht mit Sicherheit, daß sie ROSE MADDER lauteten, wenn sie es nicht früher gesehen hätte.
Zögernd und ängstlich (vielleicht hatte sie aber auch die
ganze Zeit Angst gehabt und merkte es erst jetzt richtig),
berührte sie die Rückseite. Die Rückseite knisterte, als Rosie
darüber strich. Knisterte zu sehr. Und als sie weiter unten
dagegen stieß, wo das braune Papier im Rahmen verschwand, spürte sie etwas … etwas Ungewöhnliches…
Sie schluckte, und ihr Hals war so trocken, daß es weh tat.
Sie öffnete eine der Schubladen mit einer Hand, die jemand
anderem zu gehören schien, holte ein

Weitere Kostenlose Bücher