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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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und die Sonnenbrille würden ihren Zweck erfüllen;
an diesem Spätnachmittag hatte er lediglich etwas vor, das sein
erster Partner als Detective, Gordon Satterwaite, »ein bißchen
Rumschnüffeln«, genannt hatte. Außerdem hatte es Gordon gefallen, seinen jungen Kollegen am Kragen zu packen und ihm zu
sagen, daß es Zeit für die, wie er sich auszudrücken pflegte, »alte
Gummischuhnummer« wurde. Gordon war ein dicker, stinkender,
tabakkauender Fettsack mit braunen Zähnen gewesen, und Norman hatte ihn praktisch von dem Moment an, als er ihn zum
erstenmal gesehen hatte, verabscheut. Gordon war sechsundzwanzig Jahre Cop und neunzehn davon Inspektor gewesen, aber er hatte
kein Gespür für die Arbeit. Norman schon. Sein Job gefiel ihm
nicht, und er haßte den Abschaum, mit dem er reden (und manchmal bei einem Undercover-Job, sogar arbeiten) mußte, aber er hatte
dennoch ein Gespür dafür, und dieses Gespür war ihm im Lauf der
Jahre eine unschätzbare Hilfe gewesen. Es hatte ihm geholfen, den
Fall abzuschließen, der ihm die Beförderung einbrachte, den Fall,
der ihn - wenn auch nur kurz - zum Liebling der Medien gemacht
hatte. Bei den Ermittlungen kamen sie, wie fast immer, wenn das
organisierte Verbrechen beteiligt war, irgendwann einmal an den
Punkt, wo die Spur, der sie folgten, in einem verwirrenden Labyrinth divergierender Spuren verschwand, und ein direkter Zugriff
unmöglich war. Der Unterschied bei dem Drogenfall war, daß Norman Daniels -zum erstenmal in seiner Laufbahn - das Kommando
hatte, und als er mit Logik nicht mehr weiterkam, tat er etwas, das
die meisten Cops nicht konnten oder wollten: Er verließ sich auf
seine Intuition, setzte seine ganze berufliche Zukunft darauf, was
sie ihm sagte, und handelte aggressiv und furchtlos.
    Für Norman gab es so etwas wie »ein bißchen Rumschnüffeln«
nicht; für Norman gab es nur Fischzüge. Wenn man nicht mehr
weiter wußte, ging man an einen Ort, der etwas mit dem Fall zu
tun hatte, und betrachtete ihn mit vollkommen unvoreingenommenen Augen, nicht mit wertlosen Einfällen und unausgegorenen
Mutmaßungen befrachtet, und wenn man das tat, war man wie ein
Angler in einem langsam treibenden Boot, warf die Schnur aus und
holte sie ein, warf sie aus und holte sie ein und wartete darauf, daß
etwas anbiß. Manchmal biß nichts an. Manchmal erwischte man
nur einen untergegangenen Ast oder einen alten Gummistiefel
oder einen fisch, den nicht mal ein ausgehungerter Waschbär fressen würde.
    Aber manchmal fing man auch einen, der ausgesprochen gut
schmeckte.
Er setzte Mütze und Brille auf, dann bog er nach links auf die
Harrison Street ab und machte sich auf den Weg zur Durham Avenue. Es war gut und gerne ein Fußmarsch von drei Meilen zu der
Gegend, wo Daughters and Sisters lag, aber das machte Norman
nichts aus; er konnte den Weg nutzen, um den Kopf frei zu bekommen. Bis er Nr. 251 erreicht hatte, würde er einem leeren Blatt
Fotopapier gleichen: Er würde bereit sein, die Bilder und Einfälle
zu empfangen, die sich einstellen mochten, aber nicht versuchen,
sie so zu verändern, daß sie zu seinen Vorurteilen paßten. Wenn
man keine Vorurteile hatte, kam man nicht in Versuchung.
Den überteuerten Stadtplan hatte er in der Gesäßtasche, aber er
blieb nur einmal stehen, um ihn zu Rate zu ziehen. Er befand sich
noch keine Woche in der Stadt und hatte sich ihre Geographie schon
besser eingeprägt als Rosie, was aber wiederum weniger auf sein
Training zurückzuführen war, es war einfach eine Begabung.
Als er gestern morgen mit schmerzenden Händen und Schultern
und Lenden und so wundem Kiefer aufgewacht war, daß er den
Mund nicht weiter als halb aufbekam (sein erster Versuch eines
frühmorgendlichen Gähnens, als er die Füße aus dem Bett schwang,
war qualvoll gewesen), durchfuhr ihn die niederschmetternde Einsicht, daß das, was er mit Peter Slowik - alias Klopferstein, alias
Der Erstaunliche Großstadt-Judenbube - gemacht hatte, wahrscheinlich ein Fehler gewesen war. Wie gravierend, das war schwer
zu sagen, weil er sich an vieles von dem, was in Slowiks Haus
geschehen war, nur noch vage erinnern konnte, aber ein Fehler war
es trotzdem gewesen; als er vor dem Zeitungskiosk des Hotels
stand, war er überzeugt, daß er das »wahrscheinlich« weglassen
konnte. »Wahrscheinlich«, das war sowieso nur was für die feinen
Pinkel dieser Welt - das war ein unausgesprochener, aber felsenfester Grundsatz seiner Weltanschauung etwa seit seinem zwölften
Lebensjahr, als

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