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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zum
erstenmal gesehen hatte, sprach es zu ihr. Ihr Name stand auf
der Rückseite -jedenfalls eine Version davon -, und gestern
hatte sie mehr, als sie sich leisten konnte, dafür ausgegeben,
daß ihr Haar wie das der Frau in dem Bild aussah.
Mit einer plötzlichen Entschlossenheit schob sie die flache
Seite des Messers unter den oberen Teil des Rahmens und
drückte nach oben. Sie hätte sofort aufgehört, wenn sie starken Widerstand gespürt hätte - es war das einzige Küchenmesser, das sie hatte, und sie wollte die Klinge nicht abbrechen -, aber die Nägel, die den Rahmen zusammenhielten,
gaben problemlos nach. Sie zog die obere Strebe weg, hielt
das Glas mit der anderen Hand fest, damit es nicht auf den
Tresen kippte und zerbrach, und legte sie beiseite. Eine weitere tote Grille fiel auf die Arbeitsplatte. Einen Augenblick
später hielt Rosie die bloße Leinwand in Händen. Ohne Passepartout und Rahmen war die Leinwand etwa fünfundvierzig Zentimeter hoch. Sanft strich Rosie mit einem Finger über
die längst getrocknete Ölfarbe, spürte die winzigen Höhenunterschiede einzelner Farbschichten, spürte sogar die feinen Rillen, die der Pinsel des Künstlers hinterlassen hatte. Es
war ein interessantes, etwas unheimliches Gefühl, doch es
hatte nichts Übernatürliches an sich; ihr Finger glitt nicht
durch die Oberfläche in die andere Welt hinüber.
Das Telefon, das sie erst gestern gekauft und in die Steckdose an der Wand gesteckt hatte, läutete zum erstenmal.
Rosie hatte die Lautstärke auf maximal gestellt; als sie das
plötzliche schrille Trillern hörte, stieß sie selbst einen Schrei
aus. Ihre Hand verkrampfte sich, ihr ausgestreckter Finger
hätte um ein Haar die bemalte Leinwand durchbohrt.
Sie legte das Bild auf den Küchentisch, lief hastig zum
Telefon und hoffte, es wäre Bill. Sie dachte, wenn er es wäre,
würde sie ihn zu sich einladen - damit er sich ihr Bild einmal
genau ansehen konnte. Und damit sie ihm das Zeug zeigen
konnte, das herausgefallen war. Die Gegenstände.
»Hallo?«
»Hallo, Rosie?« Nicht Bill. Eine Frau. »Hier spricht Anna
Stevenson.«
»Oh, Anna! Hallo! Wie geht es Dir?«
Aus dem Spülbecken erklang ein hartnäckiges Zirp-zirp.
»Nicht besonders gut«, sagte Anna. »Gar nicht besonders
gut. Etwas sehr Unerfreuliches ist geschehen, und ich muß es
dir sagen. Möglicherweise hat es nichts mit dir zu tun - ich
hoffe es von ganzem Herzen -, aber vielleicht doch.«
Rosie setzte sich und verspürte eine Angst, wie sie sie nicht
empfunden hatte, als sie die Umrisse toter Insekten spürte,
die unter der Rückseite ihres Gemäldes steckten. »Anna, was
ist los?«
Rosie hörte sich mit wachsendem Entsetzen an, was Anna
ihr erzählte. Als sie fertig war, fragte sie, ob Rosie zu Daughters and Sisters kommen und die Nacht dort verbringen
wollte.
»Ich weiß nicht«, sagte Rosie benommen. »Ich muß nachdenken. Ich … Anna, ich muß jetzt jemand anderen anrufen.
Ich rufe Sie zurück.«
Sie legte auf, bevor Anna etwas sagen konnte, wählte 411,
fragte nach einer Nummer, bekam sie und wählte.
»Liberty City«, sagte die Stimme eines älteren Mannes.
»Ja, könnte ich Mr. Steiner sprechen?«
»Ich bin Mr. Steiner«, antwortete die etwas heisere Stimme
amüsiert. Rosie war einen Moment verwirrt, dann fiel ihr ein
daß er im Geschäft seines Vaters arbeitete.
»Bill«, sagte sie. Ihr Hals war wieder trocken und tat weh.
»Bill, ich meine … ist er da?«
»Bleiben Sie dran, Miss.« Ein Rascheln, ein Poltern, als der
Hörer hingelegt wurde, dann, etwas entfernt: »Billy! Eine
Lady für dichl«
Rosie machte die Augen zu. Wie aus weiter Ferne hörte sie
die Grille im Spülbecken: Zirp-zirp
Eine lange, unerträgliche Pause. Eine Träne glitt unter den
Wimpern ihres linken Auges hervor und rollte ihre Wange
hinab. Ihr folgte eine aus dem rechten Auge, und Rosie ging
ein Vers aus einem alten Country-Song durch den Kopf: »Well,
the race is on and here comes Pride up the backstretch …
Heartache is goin’ to the inside…« Sie wischte die Tränen ab.
Wie viele Tränen hatte sie in ihrem Leben nicht schon abgewischt. Wenn die Hindus mit ihrer Reinkarnation recht hatten, wollte sie gar nicht wissen, was sie in ihrem vorherigen
Leben gewesen sein mußte.
Der Hörer wurde hochgenommen. »Hallo?« Eine Stimme,
die sie jetzt in ihren Träumen hörte.
»Hallo, Bill.« Es war nicht ihre normale Sprechstimme,
eigentlich nicht einmal ein Flüstern. Mehr der Hauch eines
Flüsterns.
»Ich kann Sie nicht

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