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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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verstehen«, sagte Bill. »Könnten Sie
etwas lauter sprechen, Ma’am?«
Sie wollte nicht lauter sprechen, sie wollte auflegen. Aber
das konnte sie nicht. Denn wenn Anna recht hatte, konnte
Bill auch in Gefahr sein - in großer Gefahr. Das heißt, wenn
ein gewisser Jemand den Eindruck hatte, daß er ihr zu nahestand. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Bill?
Ich bin es, Rosie.«
»Rosie!« rief er entzückt. »He, wie geht’s dir?«
Seine ungekünstelte, unverhohlene Freude machte alles
nur noch schlimmer; plötzlich war ihr zumute, als würde ihr
jemand ein Messer in den Eingeweiden herumdrehen. »Ich
kann am Samstag nicht mir dir ausgehen«, stieß sie hastig
hervor. Nun flössen die Tränen schneller und quollen unter
ihren Lidern hervor wie klebriges, heißes Fett. »Ich kann
überhaupt nicht mit dir ausgehen. Ich muß den Verstand verloren haben, daß ich es je geglaubt habe.«
»Natürlich kannst du! Herrgott, Rosie! Was soll das?«
Die Panik in seiner Stimme - kein Zorn, wie sie halb erwartet hatte, sondern echte Panik - war schlimm, aber irgendwie
war seine Bestürzung schlimmer. Sie konnte es nicht ertragen.
»Ruf mich nicht an und komm nicht her«, befahl sie ihm,
und plötzlich konnte sie Norman mit schrecklicher Klarheit
sehen, wie er mit hochgestelltem Kragen im strömenden
Regen gegenüber von ihrem Haus stand, und eine Straßenla terne schwach seine untere Gesichtshälfte beleuchtete - wie
einer der vierschrötigen, brutalen Schurken in den Romanen
von »Richard Racine«.
»Rosie, ich verstehe nicht -«
»Das weiß ich, und das ist gut so«, sagte sie. Ihre Stimme
bebte und drohte zu brechen. »Komm einfach nicht mehr in
meine Nähe, Bill.«
Sie legte den Hörer hastig auf, sah das Telefon einen
Moment an und stieß dann einen lauten, gequälten Schrei
aus. Sie fegte das Telefon mit den Handrücken von ihrem
Schoß. Der Hörer flog, so weit es seine Schnur zuließ, und
blieb auf dem Boden liegen, wo sich das Summen des
Freizeichens auf seltsame Weise wie das Zirpen der Grillen
anhörte, das sie Montag nacht in den Schlaf gewiegt hatte.
Plötzlich konnte sie das Geräusch nicht mehr ertragen und
dachte, wenn sie es auch nur noch dreißig Sekunden
anhören müßte, würde ihr der Kopf platzen. Sie stand
auf, lief zur Wand, ging in die Hocke und zog das Telefonkabel heraus. Als sie versuchte, wieder aufzustehen, trugen ihre zitternden Beine sie nicht mehr. Sie blieb auf dem
Boden sitzen, verbarg das Gesicht in den Händen und ließ
den Tränen freien Lauf. Sie hatte wirklich keine
andere
Wahl.
Anna hatte immer wieder betont, daß sie nicht sicher sei,
daß Rosie auch nicht sicher sein könne, was auch immer sie
vermutete. Aber Rosie war sicher. Es war Norman. Norman
war hier, Norman hatte endgültig den Verstand verloren,
Norman hatte Annas Ex-Mann Peter Slowik umgebracht,
und Norman suchte nach ihr.
7
    Fünf Blocks vom Hot Pot entfernt, wo er vier Sekunden früher seiner Frau durch das Fenster direkt in die Augen hätte sehen können,
betrat Norman einen Trödelladen namens No More Than 5 . »Jeder
Artikel im Laden unter 5 $!« lautete das Motto des Ladens. Es
stand in Druckbuchstaben unter einem erbärmlich gezeichneten
Porträt von Abraham Lincoln. Lincolns bärtiges Gesicht grinste
breit, und er blinzelte mit einem Auge, und Norman fand, er hatte
große Ähnlichkeit mit einem Mann, den er einmal hatte festnehmen müssen, weil er seine Frau und alle vier Kinder erwürgt hatte.
In diesem Laden, der buchstäblich keinen Steinwurf vom Liberty
City Kredite & Pfandleihe entfernt war, kaufte Norman alles an
Verkleidung, was er heute zu tragen beabsichtigte: eine Sonnenbrille und eine Mütze mit dem Schriftzug CHISOX über dem
Schirm.
    Als jemand mit über zehn Jahren Berufserfahrung als Detective
Inspektor war Norman zur Überzeugung gelangt, daß Verkleidungen nur in drei Fällen angesagt waren: Spionagefilmen, SherlockHolmes-Geschichten und Halloween-Partys. Bei Tage, wenn
Make-up stets wie Make-up und eine Verkleidung stets wie eine
Verkleidung aussah, waren sie besonders nutzlos. Und die Schnallen von Daughters and Sisters, diesem New-Age-Hurenhaus, wohin sein Kumpel Peter Slowik, wie er schließlich zugegeben hatte,
Normans Rambling Rose geschickt hatte, würden besonders mißtrauisch werden, wenn ein Raubtier um ihr Wasserloch herumschlich. Für solche Schnallen war Paranoia erheblich mehr als nur
eine Lebenseinstellung; sie war ihnen in Fleisch und Blut übergegangen.
    Die Mütze

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