Das Bildnis der Novizin
Lucrezia war froh, dass sie zu Fuß gingen, da musste sie ihrer Schwester nicht in die Augen schauen. »Es gibt so vieles, das wir nicht wissen.«
9. Kapitel
Am Namensfest des heiligen Bartholomäus, im Jahre des Herrn 1456
L ucrezia wälzte sich ruhelos auf ihrer Pritsche hin und her. Es war eine kühle Augustnacht und sie zog sich die dünne Decke über die Schultern. Sie hörte das leise Rascheln und Tapsen der Mäuse im Gang und es tröstete sie zu wissen, dass sie nicht das einzige lebende Wesen im Kloster war, das nicht schlief.
Seit sie dem Mönch in einem feinen Kleid Modell gestanden hatte, wurde sie von unmöglichen Wünschen und Sehnsüchten geplagt. Bei Tage, wenn sie im Garten oder mit den Gebeten beschäftigt war, konnte sie ihren inneren Aufruhr verbergen. Aber nachts, allein in ihrer Zelle, musste sie ununterbrochen daran denken, wie der Mönch sie in dem Seidenkleid angesehen hatte, seine warmen Finger an ihrem Kinn. Es kam ihr fast so vor, als habe Fra Filippo sie als Frau gesehen, nicht als Nonne. Und doch war er ein Mönch und sie eine Novizin. Sie waren beide durch ihre Gelübde gebunden, auch wenn das ihre noch nicht endgültig war. Was er für sie empfand, konnte niemals mehr sein, als die Zuneigung eines Geistlichen für seine Schutzbefohlene. Wieder und wieder sagte sie sich das. Sie sagte es sich beim Aufwachen, sie sagte es sich beim Gebet und auch, wenn sie beim Anblick seiner von Farbspritzern befleckten Kutte die Gefühle zu überwältigen drohten.
Irgendwo jenseits der Klostermauern schrie eine Eule. Lucrezia massierte ihre schmerzenden Schultermuskeln. Seit ihrem letzten Besuch bei dem Maler hatte sie hart im Garten gearbeitet, Kräuter geerntet und Wurzeln ausgegraben, die Schwester Pureza für einen ihrer Heiltränke brauchte. Heute Vormittag zum Beispiel hatte sie grobe Stiefel angezogen, einen Spaten genommen und einen Maulbeerbusch ausgegraben. Die tief und fächerförmig in die Erde hinabreichenden Wurzeln hatten sich zäh an den Boden geklammert. Es war eine schwere, schweißtreibende Arbeit gewesen, sie hatte danach Blasen an den Händen gehabt. Doch die harte körperliche Arbeit hatte ihrem jungen Körper gut getan. Gerne hatte sie die Wurzeln anschließend zu dem Bächlein gebracht, das in einer Ecke des Gartens unter der Mauer abfloss, und sie gründlich gereinigt. Danach hatte sie sie mit dem Schubkarren zum Hackklotz bei der Krankenstation gekarrt und klein gehackt. In der Klosterküche hatte bereits ein großer Wasserkessel über dem Feuer gedampft, und darin köchelten die Wurzeln auch jetzt noch vor sich hin.
Nach einem so harten Tag hatte sie eigentlich erwartet, gut schlafen zu können. Doch ihr Geist wollte einfach keine Ruhe finden, die unwillkommenen Gefühle wollten sich nicht verbannen lassen.
Einem Mann wie Fra Filippo war Lucrezia noch nie begegnet. Seine Liebe zu seiner Arbeit, seine Kraft und Vitalität erinnerten sie an ihren Vater – mit einem Unterschied: Der Maler sah sie nicht so an wie ein Vater seine Tochter, sondern wie ein Mann eine schöne Frau ansieht.
Eine Frau, in die er verliebt war.
Vielleicht.
Sie hatte heimlich Bocaccios Decamerone gelesen, in dem es um das Fieber ging, das zwischen einem Mann und einer Frau entbrennen konnte. Sie hatte sich nie vorstellen können, wie sich ein solches Fieber anfühlte, und hatte auch nie irgendwelche diesbezüglichen Anzeichen bei den Menschen, mit denen sie verkehrte, beobachtet. Sie war einmal von ihrem Verlobten geküsst worden, aber das beeindruckendste daran waren ihre Wangen gewesen, die er mit seinen Bartstoppeln zerkratzt hatte.
Aber wenn sie an Fra Filippo dachte, an seinen erdigen Geruch, malte sie sich aus, wie sie ihre Wange an die seine legte, wie sie sich an seinen mächtigen Brustkorb schmiegte, wie es sich anfühlte, wenn er sie umarmte und ihr betörende Worte über Kunst und Schönheit und Liebe ins Ohr flüsterte.
Lucrezia wurde klar, dass sie beim Tod ihres Vaters noch ein Mädchen gewesen war. Nun jedoch reifte sie in der Tracht einer Nonne, als Novizin, dem Herrn Jesus Christus versprochen, zur Frau heran. Und es gab niemanden, mit dem sie darüber hätte reden können. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war nie sehr eng gewesen. Ihrer älteren Schwester Isabella hätte sie sich vielleicht anvertraut, doch da der Monsignore eine einjährige Kontaktsperre empfohlen hatte, damit sich die Novizinnen besser ans Klosterleben gewöhnen konnten, schied diese Möglichkeit aus. Und
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