Das Bildnis der Novizin
Spinetta war zu jung. Und zu tugendhaft. Nun, es war sowieso unmöglich.
Lucrezia wusste, dass nicht wenige Geistliche mit Kurtisanen verkehrten oder sich Geliebte nahmen, deren Ruf dann für immer ruiniert war. Und sie war sicher, dass sie mit ihren Gefühlen, den Gefühlen einer Novizin für einen Mönch, das böse Auge des Teufels auf sich zog.
Da sie also auf Erden niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte, wandte sie sich in ihrer Not an die Jungfrau Maria. Lange nachdem die anderen ihre Kerzen gelöscht und sich zur Ruhe gelegt hatten, kniete Lucrezia in ihrer schmalen Zelle und betete. Dies war die zweite Nacht, die sie auf dem harten Steinboden verbrachte und der Jungfrau wispernd ihr Herz ausschüttete.
»Heilige Maria, vergib mir, dass ich Kleider anzog, die mir nicht mehr zustehen. Vergib mir, dass ich mich nach Dingen sehne, die ich nicht mehr haben kann. Hilf mir, mit meinen Gefühlen für den Maler fertig zu werden. Hilf mir, bitte hilf mir, Heilige Muttergottes.«
Aber selbst hier wagte Lucrezia nicht, alles zu sagen, was sie fühlte.
»Jene, die sich damit auskennen, sagen, dass der Maler mit seiner Kunst dich und deinen Sohn glorifiziert«, betete sie. »Ich bitte dich demütig und auf Knien, führe und geleite mich. Hilf mir, nicht vom rechten Weg abzukommen, Heilige Muttergottes.«
Lucrezia betete die ganze Nacht lang. Immer wieder sah sie das ausgeprägte Gesicht des Malers vor sich, fühlte seinen magnetischen Blick auf sich ruhen. Aber sie sah auch die fleißigen Hände ihres Vaters, was sie mit tiefer Traurigkeit erfüllte. Sie sah sich selbst, ihr Antlitz, auf dem Haupt die Krone der Muttergottes. Scham, Erregung, Sehnsucht, lösten einander ab.
Sie kniete noch, als sich die Nonnen, die in dieser Nacht die Vigiliae , die einstündige nächtliche Andacht, übernehmen mussten, in ihren Zellen rührten, und kniend döste sie ein. Als Schwester Maria und Schwester Bernadetta von der Andacht zurückkamen und die zum Kreuzgang führende Tür des Dormitoriums laut ins Schloss fallen ließen, fuhr Lucrezia hoch. Zitternd kroch sie auf ihre Pritsche, wickelte sich in ihre dünne Decke und wälzte sich schlaflos hin und her, bis die Glocke zur Prima rief. Mit verklebten Lidern und schmerzenden Gliedern stemmte sich Lucrezia aus dem Bett. Ihr Herz war schwer, und doch war sie gleichzeitig von einem Hochgefühl erfüllt: Heute war Donnerstag. Heute nach der Sexta würde sie den Mönch wiedersehen.
Lucrezia und Spinetta nahmen mit leise raschelnden Kutten ihre Plätze zwischen den knienden Nonnen ein. Die jungen Novizinnen neigten ihre Häupter in scheinbar unveränderter Demut, murmelten ihre Gebete mit derselben Andacht. Und doch wusste jeder im Kloster, dass die Schwestern nun schon dreimal abgeholt und zum Maler eskortiert worden waren. Man begann zu tuscheln, Vermutungen anzustellen, Neid keimte auf. Lucrezia und Spinetta wurden genau beobachtet, und obwohl niemand sagen konnte, was es war, hatte doch jeder das Gefühl, dass die beiden sich verändert hatten. Einige hielten es für Eitelkeit, andere für Hochmut, wieder andere – großzügiger, toleranter, in ihrer Beurteilung der Schwächen anderer -, meinten, die Schwestern hätten ein schlechtes Gewissen, weil sie das Kloster verlassen und den Maler besuchen durften.
Schwester Pureza, die neben der Äbtissin kniete, blickte die Oberin auffordernd an. Als diese nach einer Weile geruhte, den Blick der Freundin zu erwidern, tat sie es mit einem Ausdruck gereizter Ahnungslosigkeit.
»Was ist, Schwester Pureza?«, krächzte sie ihre ersten Worte an diesem Morgen.
»Schwester Lucrezia ist sehr blass und erschöpft. Ich fürchte, die Besuche bei dem Maler werden zu anstrengend für sie.«
»Wie anstrengend kann es sein, den ganzen Tag still zu sitzen und sich malen zu lassen?«, fauchte die Äbtissin.
»Da ich diese Erfahrung noch nicht gemacht habe, kann ich nicht sagen, wie anstrengend es ist«, murmelte Schwester Pureza. »Aber ich habe schon ganze Tage in Andacht verbracht und weiß, wie anstrengend das sein kann. Immerhin werden dabei Geist und Seele erfrischt. Aber einem Maler Modell zu sitzen, muss doch die Eitelkeit und den Hochmut anstacheln. Vielleicht ist Schwester Lucrezia so erschöpft, weil sie innerlich zerrissen ist.«
Die Äbtissin kannte die Sünde des Hochmuts und wusste, wie sehr sie den Geist folterte.
»Sie ist nicht die erste Novizin, der es schwerfällt, sich ans Klosterleben zu gewöhnen, und sie wird nicht
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