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Das bin doch ich

Das bin doch ich

Titel: Das bin doch ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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und beginnt zu essen. Ich sehe Nudeln in ihrem Mund verschwinden. Sekunden später riecht der ganze Waggon nach einer unerträglich intensiven Variante von Spaghetti Bolognese. Es ist ein wahrhaft gotteslästerlicher Gestank. Die Frau ißt ungerührt. Sie blickt über die Köpfe der Mitreisenden hinweg und kaut langsam.
    Wenn das bis München so bleibt, geschieht ein Unglück, das weiß ich. Ich bin ein friedfertiger Mensch, aber auch ein Knecht meiner Idiosynkrasien. Schon jetzt fühle ich Mißmut gegen diesen Bauerntölpel da mir gegenüber, diese dumme Frau mit ihren stinkenden Nudeln. Ich ertrage diesen Anblick keine fünf Stunden. Ebensowenig wie die grölenden Stimmen der Kerle, die ein paar Reihen hinter mir lautstark über ihre Arbeitskolleginnen reden. Sie sprechen wüsten Dialekt, ab und zu hört man, wie sie miteinander anstoßen. Ich drehe mich um. Sie tragen karierte Hemden und schwenken tatsächlich Bierflaschen.
    Ich starre in meine Zeitschrift. Ich muß jeden Absatz vier- oder fünfmal lesen, und auch dann habe ich den Inhalt noch nicht erfaßt. Meine Ohren krümmen sich gewissermaßen nach hinten, wo die Horde johlt, und meine Nase wächst nach vorne, um den Bolognesegestank zu erschnüffeln. Ich frage mich, was die Hexe hinzugerührt hat, das ist der reinste Höllenbrodem. Und sie ißt und ißt und ißt und schaut über mich hinweg.
    In St. Pölten wird meine Hoffnung, ein Teil der Fahrgäste könnte aussteigen, enttäuscht. Der Waggon bleibt voll, die Kerle röhren weiter, die religiöse Fanatikerin mir gegenüber stellt das Essen ein und zieht sich dafür die Schuhe aus. Es reicht. Ich packe meine Tasche und meine Zeitschriften.
    In der ersten Klasse finde ich zu meiner Freude einen Platz, der mir gefällt. Ich kann mich breitmachen. Beim Zugbegleiter zahle ich den Aufschlag. Bei der Bierbetreuerin, die ihr Wägelchen durch die Waggons rollt, bestelle ich eine Thai-Suppe. Ich esse und fühle mich wohl. Als die junge Frau noch einmal vorbeikommt, kaufe ich ihr eine Flasche Wein ab. Sie macht einen Scherz, ich erwidere etwas, wir lachen. Jetzt wäre alles gut. Wäre da nicht der Ohrwurm. Was ist das überhaupt für ein Lied?
    Ich bereite mich mental auf die Begegnung mit Karin Graf vor. Sie ist seit fast zehn Jahren meine Agentin, ohne sie hätte ich wohl erst viele Jahre später ein Buch veröffentlicht. Ihre Aufgabe ist es, meine Manuskripte an Verlage zu verkaufen. Dafür bekommt sie einen gewissen Prozentsatz meiner Einkünfte. Die Arbeit der Nacht ist das erste meiner Manuskripte, das ihr wirklich gefällt, obwohl sie schon meine ersten vier Bücher vermittelt hat. Ihre literarischen Auffassungen dürften sich von meinen unterscheiden, aber das macht ja nichts. Außerdem lernt man damit umzugehen. Anfangs, als ich sie noch nicht persönlich kannte, hatte ich Angst vor ihr. Sie war nichts als eine strenge Stimme aus dem Telefonhörer. Wenn sie fand, das Gespräch sei beendet, sagte sie »Auf Wiederhören!« und legte auf. Ich stand da und schaute den Hörer an.
    Überhaupt, ihre Stimme, ihre und jene ihrer Agenturpartnerin Heinke Hager. Damals, also vor zehn Jahren, telefonierte ich alle paar Wochen mit ihnen. Die beiden Frauen waren für mich nur Stimmen, doch zugleich verband ich mit diesen Stimmen so viele Hoffnungen. Alle zehn Tage rief ich eine Berliner Nummer an, um mich nach den Aussichten zu erkundigen. Mal erklärte mir eine sanfte, freundliche Stimme, es gebe nichts Neues, aber bald werde es klappen, ein anderes Mal vertröstete mich eine nicht ganz so freundliche Stimme auf den nächsten Monat, auf Wiederhören.
    Schon damals war eine CD von Stereolab das, was meistens in meinem Player lag. Die hellen Stimmen der beiden Sängerinnen, dazu diese schönen, eingängigen Melodien, das konnte ich mir stundenlang anhören. Und seltsam, irgendwie wurden die Berliner Stimmen aus dem Telefonhörer mehr und mehr eins mit den Stimmen aus den Lautsprechern der Stereoanlage. Noch heute höre ich, wenn Karin anruft, eine Stimme von Stereolab. Nicht die Musik, nur die Stimme. Karin ruft an, und Stereolab ruft an. Es ist schwer zu erklären. Andererseits habe ich jedesmal, wenn ich Stereolab auflege, kurz den Eindruck, Karin Graf singt. Auf alle Fälle fühle ich mich immer gehoben, wenn ich sie höre.
    Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Ich vermeine von hinten ein Reizwort vernommen zu haben. Entsetzt spitze ich die Ohren. Drei Reihen hinter mir telefoniert eine Frau.
    »Ja, ich bin total

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