Das bin doch ich
nachdem ich mit dem Kellner zweimal wenigstens je eine Minute lang Bockschauen gespielt habe, ohne daß etwas passiert ist, unterbricht Clemens unser Gespräch und zückt sein Diktaphon. Er drückt auf Record und brüllt, den Lärm im Raum übertönend, ins Mikro:
» WIE MAN LEBEN SOLL von… GLA - WE - NITSCH … ÄH … WIE HEISST DU MIT VORNAMEN ?«
»Thomas«, flüstere ich.
» THOMAS !« brüllt er.
Um mich ist es sehr dunkel. Dennoch bemerke ich, daß alle, alle im Raum uns ansehen. Mich ansehen. Sogar der Kellner. Ich zeige auf mein leeres Glas. Er sieht weg.
Zehn
»Wunderbare Aussicht, ja ne.«
»Mhm.«
»Von hier sieht man ganz hervorragend den Arzberg, ja, da drüben der mit dem Vorspitz. Erstbestiegen, das wird dich interessieren, ja ne, erstbestiegen von einem Salzburger, dem Leo Anderl, ja, Anderl hat er geheißen, ja, Leo. Der daneben ist der Rescher, der kleinere daneben der Resch, also Zwillingsberge, ja ne, Zwillingsberge sozusagen. Dort oben gibt es die höchstgelegene mit Strom versorgte Almhütte des Tennengaus, ein kleiner Weg führt hinauf, das könnte dich auch als Schriftsteller interessieren, ja, wenn wir einmal hinaufgehen, du solltest mitkommen, ja ne.«
»Meine Füße sind kalt. Die Schuhe sperren mir das Blut ab.«
»Kalt ist dir?«
»Die Füße.«
»Und das da drüben, das ist der Amramer Gletscher. Das Eis dieses Gletschers könnte ganz Salzburg ein Jahr versorgen, als Wasser natürlich, Trinkwasser selbstverständlich, ja. Was sage ich, ein Jahr, ein Jahrzehnt, ja ne.«
»Bauern waschen sich ohnedies nicht.«
»Bauern waschen sich nicht, so? Ha. Das da drüben, die Hütte, ja, da waren wir zum fünfundvierzigsten Maturajubiläum, der Professor Schwarzenbeck aus Krems war dabei, ja, der…«
»Gunther, ich habe dir schon so oft gesagt, wenn ich etwas wissen will, frage ich.«
»Ach so, entschuldige, ja? Das eine darf ich dir noch sagen, ja, dort drüben, das ist der Obspitz! Da drüben auf dieser Alm haben früher die Kühe im Sommer geweidet. Und dort links siehst du den Wachserner, da habe ich in deinem Alter Touristen geführt, ja ne, Touristen, na ja, vielleicht war ich etwas jünger, ja. Zu meiner Studentenzeit.«
»Mhm.«
»Was du da drüben siehst, der mit der Schneemütze, das ist der Kellenstein, an die zweitausendachthundert Meter wird er haben, ja. Von dort…«
»Gunther, ich merke mir die Namen sowieso nicht. Was für ein Wind! Hab mich zu dünn angezogen.«
»Wind, ja, Wind bläst anständig. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Da hilft es, wenn man das Gesicht mit der Hand schützt. Du solltest das Gesicht abdecken. Es ist nämlich so, daß man bei Wind die Kälte subjektiv viel stärker spürt, ja ne.«
»Ja.«
»Ja, zum Beispiel ein Grad Celsius minus spürt man bei einem Wind von, sagen wir, ja, sechzig Stundenkilometern wie vielleicht minus zwanzig Grad, ja ne.«
»Und wenn es minus zwanzig hat und der Wind bläst mit hundertfünfzig Stundenkilometern, was ist dann?«
»Also, ich habe nachgedacht. Das wird sich nicht potenzieren, ja, die Minustemperatur, ja ne, aber sicher spürst du diese Kälte subjektiv, ja, mit weit jenseits der minus sechzig, ja…«
»Wenn dieser Lift nicht bald weiterfährt, werden wir die minus sechzig heute noch erleben.«
»Verstehe nicht, was da los ist. Da muß ein Unglück geschehen sein.«
»Siehst du Else irgendwo?«
»Sie war drei oder vier Sessel hinter uns, ja. Von hier sieht man nicht so weit zurück.«
»Ich bitte dich, wackle nicht so, wir schaukeln schon, mir wird übel.«
»Übel?«
»Ja! Vom Geschaukel!«
»Aha, ja. Nicht zu sehen, ja, Else. ELSE ! EEEELSEE !«
»Sie wird dich nicht hören. Bitte nicht so schaukeln!«
» ELSE !«
»Was meinst du, wie viele Meter geht es da hinunter?«
»Na ja. Werden so dreißig sein. Vielleicht vierzig, ja.«
»Typisch. Wo ich bin, da geht es am tiefsten hinunter.«
»Wieso? Hast du Höhenangst?«
»Himmel, JA !«
»Ach so, hahaha, ja. Da brauchst du keine Angst haben, hier kann nichts passieren, das ist doppelt und dreifach gesichert hier alles, ja ne.«
»Genau. Deshalb geschehen ja nie Seilbahn- und sonstige Skiliftkatastrophen.«
»Aber das kann man doch nicht vergleichen! In Sölden zum Beispiel, das war eine ganz andere Situation…«
»Bitte hör auf zu wackeln! Sofort!«
»Lieber Schwiegersohn, wenn wir mal so schön zusammensitzen, möchte ich dich bei dieser Gelegenheit etwas fragen, ja ne.«
»Wieso mußt du eigentlich ständig diesen
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