Das bisschen Kuchen: (K)ein Diät-Roman (German Edition)
antwortete Leo und setzte sich wieder in Bewegung.
Falls das ein Kompliment gewesen war, hatte er es verdient. Nicht sie, er war bemerkenswert. Etwas ganz Besonderes. Charmant. Und dann wieder so verschlossen. Was steckte wirklich hinter dieser aufgeschwemmten Fassade? Mit wenigen Schritten hatte sie ihn eingeholt.
»Du warst schon als Kind dick, stimmt’s?«, fragte sie leise.
Seine Miene umwölkte sich. »Dick ist untertrieben. Ich wuchs in einem Frauenhaushalt auf. Mit meiner Mutter, drei Schwestern und zwei Tanten. Sie kochten den ganzen Tag, backten fantastische Kuchen, fütterten mich mit Süßigkeiten. Als ich in die Schule kam, wurde ich sofort vom Sportunterricht befreit. Der Lehrer hatte Angst, dass ich ohnmächtig werden könnte.«
Genau, wie ich es mir gedacht hatte, durchfuhr es Niki.
Leo richtete einen forschenden Blick auf sie. »Und wie war es bei dir?«
»Ich war auch ein dickes Kind, aber ich wurde nicht so verwöhnt«, bekannte sie. »Ich habe heimlich gegessen. Habe mich in der Speisekammer versteckt und alles vernichtet, was essbar war. Man sagte, ich hätte Babyspeck, doch es warKummerspeck. Meine Eltern waren streng, viel zu streng. Und die Kinder in der Schule haben mich gehasst.«
Leo nickte mitfühlend. »Das kenne ich. Weil ich nie mit anderen Kindern spielte, habe ich angefangen zu lesen. Ganze Bibliotheken habe ich verschlungen.«
»Bei mir war es genauso!«, rief Niki aufgeregt. »Ich las alles, was mir in die Finger kam. Romane, Sachbücher, Lexika. Wurde Klassenbeste. Eine richtige Streberin. Zum ersten Mal fanden meine Eltern mich nicht mehr so daneben.«
»Und dann?«
»Mit siebzehn entdeckte ich, dass es Jungs gibt. Denen wollte ich gefallen. Ich fing an zu hungern, aß nur noch Äpfel. Allmählich war ich nicht mehr dick, nur noch moppelig. Aber mit dem Fleiß war’s vorbei. Ich rutschte in der Schule ab und schaffte gerade so meinen Abschluss. Dann machte ich eine Lehre als Köchin, weil Essen das Einzige war, was mich begeisterte. Mit neunzehn hatte ich meinen ersten Freund. Und mit zwanzig habe ich geheiratet. Das war’s.«
Noch nie hatte sie so offen über ihr Leben gesprochen. Aber es hatte sich auch noch nie jemand dafür interessiert.
»Und du?«, fragte Niki. »Hast du so was wie einen Beruf?«
»Ich bin Investor«, sagte Leo.
»Wie – Investor? In was investierst du denn?«
»Häuser, Hotels, Firmen. Im Grunde langweiliges Zeug. Die Finanzwelt ist nicht sexy.« Leo zeigte auf eine Bank. »Pause? Die haben wir uns verdient nach unserem ausgedehnten Ausflug.«
Sie waren gerade mal zehn Minuten unterwegs.
Nachdem sie sich gesetzt hatten, hing jeder seinen eigenen Gedanken nach. Investor, komischer Beruf, dachte Niki. Offenbar wollte er sich nicht weiter darüber auslassen, und Niki respektierte das. Sie genoss es ohnehin, dass man mit Leo auch schweigen konnte, ohne dass die Stille peinlich war. Irgendetwas in ihnen unterhielt sich einfach weiter miteinander. Stumm. Und sehr vertraut. Sie waren eben beide dicke Kinder gewesen. Da wusste man, wie es dem anderen ging.
Das Kreischen einer Vollbremsung holte sie in die Gegenwart zurück. Sie spähte zur Auffahrt. Ein silberfarbenes Coupé hielt vor dem Eingang des Hotels. Niki wurde schlecht. Ihr Herz raste. Sie kannte diesen Wagen. Und sie kannte auch den Mann, der ausstieg. Es war Wolfgang.
Noch nie war Niki so schnell gelaufen. Sie hatte Leo nur ein »SOS« zugerufen und war losgespurtet. Hechelnd rannte sie zur Sonnenterrasse an der Seeseite des Hotels. Von dort konnte man unbemerkt ins Haus gelangen. Unbemerkt von Wolfgang. Kalter Schweiß lief ihr den Rücken herunter. Ihre Stirn glühte, ihr Herz hämmerte gegen die Rippen.
Was würde er tun? Sie zwingen mitzukommen? Es war noch zu früh! Gerade hatte sie sich daran gewöhnt, Mahlzeiten einzunehmen, die allenfalls einen Kanarienvogel satt gemacht hätten. Gerade begann sie, sich hier wohlzufühlen. Jetzt wollte Wolfgang alles zerstören. Ihre Diät. Ihre Ehe. Einfach alles. Der Gedanke daran, dass sie vielleicht schonam nächsten Tag wieder daheim auf dem Sofa sitzen und Frustpralinen futtern würde, zerriss sie fast. Nein, das durfte nicht geschehen! Niemals!
Sie stolperte über einen Rosenbusch, fiel hin, taumelte weiter. Schon kamen die cremefarbenen Sonnenschirme der Terrasse in Sicht. Auf weich gepolsterten Liegen lagerten reglose Gestalten in Bademänteln. Auch Tamara und Alexis verbrachten hier ihre Mittagspause, maskiert mit großen,
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