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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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gefährlichen Aussicht.
    Beth setzt sich an die Matratzenkante, lässt sie nachgeben, nachgeben, nachgeben, schwingt dann die Beine hoch, rückt nach oben und lehnt sich gegen das Kopfteil, Kissen im Rücken. Sie schiebt die Hand unter seinen Schädel, seine Wange. Sie ist froh über sein Gewicht.
    »Ich gehe auf Demonstrationen, Beth.«
    Jetzt wird er reden, und ich werde ihn lassen.
    Und sie ist froh über das Gefühl seiner Stimme an ihren Fingern.
    »Du wärst stolz auf mich. Vielleicht.«
    Sie stellt sich nicht vor, wie dicht die List in seinem Denken liegt, die Dunkelheiten und Strategien und Lügen. Auch sie haben Gewicht und Form, und auch sie schlagen in ihm.
    Und ich habe meine eigenen, und heute rette ich ihn nicht vor mir.
    Er wiegt den Kopf vor und zurück, warm und weg und dann warm und dann wieder weg, und: »Ich glaube, du wärst stolz. Nicht wegen der … ich meine … ich habe diese Soldatenmütter kennengelernt – so wie ich eben die Mütter toter Söhne kennenlerne – tut mir leid, ich weiß, du kannst das nicht ausstehen, aber ich muss es sagen, und … aber ich … Was haben sie schon außer mir? Ihre Jungen, die waren Teenager und wollten Gratisfahrstunden und bloß irgendeinen Job, und mit dem Haarschnitt und der neuen Ausgehuniform sahen sie anständig aus, und Leute erzählten ihnen was von Loyalität und Selbstachtung und Disziplin, und sie wurden richtig gut im Bügelfaltenbügeln und Stiefelpolieren – ich weiß einiges darüber – die Recherchen – über manches habe ich gelesen, und die Leute, die Verwandten, andere total kaputte Soldaten mit anderen Toten – mit toten Freunden – die haben mir einiges erzählt, und in diesem Zusammenhang spielt es, glaube ich, keine Rolle, was ich getan habe – oder was daran Wirklichkeit war – ich habe trotzdem das Recht, scheißwütend und empört zu sein, weit mehr als das, weil sie mit minimaler Ausbildung in ein Land geschickt werden, wo sie niemals hätten sein sollen, und aus vorhersehbaren und beschissenen Gründen getötet werden, weil genau das immer passiert, wenn die Menschen kein bisschen aufeinander achtgeben. Immer. Alles ordentlich und Abschiedsküsse und Fotos mit der Post und Emails und dann – in einer Kiste nach Hause – wie soll man das ohne mich begreifen – du kriegst keine Entschuldigung oder Gerechtigkeit oder die Zusicherung, dass die Anwerber nicht weiter in deinem Einkaufszentrum, deiner Sozialsiedlung, deiner Schule herumlungern und noch mehr Jungen einsammeln und noch mehr Tote aus ihnen machen und … Weißt du, was sie früher gesagt haben? – im Ersten Weltkrieg? – in dem? Glaub mir, ich kenne meine Kriege – die Hälfte meiner Arbeit war es, Scheißkriege zu lernen – früher haben sie gesagt, es gebe nur eine Gelegenheit, wenn ein König einen Gefreiten grüßen müsse und der Gefreite ihn ignorieren könne – wenn der Gefreite nämlich tot sei. Ich habe die Nase voll von dem ganzen Respekt für die Toten. Ich respektiere die Lebenden. Die Lebenden – die leben müssen, weiterleben müssen – für die arbeite ich. Und mit ihnen demonstriere ich.« Er macht einen Atemzug Pause, presst sein Gesicht an ihre Hand. Sie hält seine Stirnfalten. »Diese Frauen sind jetzt anders: Sie sind nicht bloß Hinterbliebene, sondern Aktivistinnen – sie sind nicht mehr so, wie die Leute in Sozialsiedlungen sein sollten – sie halten nicht einfach den Mund und nehmen alles hin. Und manchmal bin ich bei ihnen – ohne besonderen Nutzen in diesem Zusammenhang, aber ich bin da, möchte da sein – wenn ich kann, wo ich kann – und auf den Demos gehen Leute rum und verteilen Schilder, Plakate – meistens die Gesichter verletzter Jungs, toter Jungs, und man trägt diese toten Kinder mit sich herum, und ich gehe hinter den Müttern, und die tragen T-Shirts, solche T-Shirts mit Nummern drauf, die Dienstnummern ihrer Söhne – denn ihre Söhne waren Nummern, sind Nummern – alles, was sie getan haben, was ihnen wichtig war, worauf sie vertrauten, und alles, was übrig ist, sind diese T-Shirts und je eine Nummer – Frauen, die ihre Söhne am Leib tragen. Und ich demonstriere mit ihnen und gebe ihnen Geld, weil mein Beruf mir Geld bringt und ich verdammt noch mal zu helfen versuche . Ich versuche es.«
    Er unterbricht sich, damit sie ihm widersprechen kann, rollt sich auf den Rücken und gibt ihr die Hand, greift fest zu. »Bei der letzten Demonstration – ich nehme an so vielen teil, wie ich kann, denn man lernt

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