Das blaue Buch - Roman
Glauben nicht, es kann dir nur erzählen, was es sieht: eine Hotellounge mit pastellblau-karamellbraunem Teppichboden, dicken Sesseln und der Stille von Krankenhauswartezimmern. Beth sitzt in einem Lehnsessel ihrer Mutter gegenüber und starrt in eine Zeitschrift voller Schnappschüsse von Menschen, die sie nicht kennt und die Partys feiern, und wahre Geschichten von schrecklichen Krankheiten und Angriffen und Unfällen – auch mit Schnappschüssen. Alle Abgebildeten scheinen sich enorm zu amüsieren, egal ob sie einer exzentrischen Tischgesellschaft zuprosten oder eine Hauttransplantation über sich ergehen lassen.
Verfluchtes Beverley, der Morgen danach.
Im Eingangsflur vertickt eine Standuhr laut die Zeit, weiter hinten im Speisesaal wird das Frühstücksgeschirr abgeräumt, werden die Tische fürs Mittagessen eingedeckt. Die Mahlzeiten hier sind zugleich häufig und dürftig – keine der beiden Frauen weiß, wie sie sich die wenigen Stunden dazwischen vertreiben soll. Beth kann sich nicht noch einmal massieren lassen. Cath kann sich nicht noch einmal die Haare schneiden lassen.
Oben in den Zimmern gibt es Kabelfernsehen, es gibt Pay-per-View-Filme, aber Cath würde meinen, einen Film anschauen heiße den Tag verschwenden. Und wahrscheinlich würde es ihren Geist auch nicht genug beschäftigen. Vor allem heute nicht.
Heute ist ihr Hochzeitstag, aber sie kann nicht mehr verheiratet sein.
Darum sind sie hier. Es ist das erste Mal, dass Cath diesen Tag allein verbringen müsste – das erste Mal seit über vierzig Jahren.
Beth wäre erleichtert, wenn sie nach oben gehen und sich hinlegen könnte, doch das hieße, ihre Mutter im Stich zu lassen, und das hat sie schon zu oft getan.
Beth ist ganz dumm vor Erschöpfung und irgendwie weinerlich. Kurze Minuten gleitet sie in Benommenheit, dann schreckt sie plötzlich wieder hoch, schaut ihre Mutter an und will wieder einmal weinen, tut es aber nicht. Und Beths Kleidung kann die Erinnerung an Arthur, und wie sie ihn gefunden hat, nicht ganz ersticken. Die Wiederentdeckung.
Verfluchtes Beverley, der Morgen danach.
Draußen nieselt es, ein Spaziergang wäre also unangenehm. In der grauen Ferne jenseits des Rasens stehen hohe viktorianische Bäume, so gepflanzt, dass sie sich kunstvoll eine Anhöhe hinaufreihen, und Beth betrachtet sie, bewundert sie aus ganzem Herzen, damit sie nicht fühlen muss, wo sie gebissen und wo sie am meisten berührt wurde, und wie unklug es gewesen wäre, mit Arthur zu schlafen, ihm dieses Vertrauen zu schenken, und wie schrecklich es ist, dass sie es nicht getan hat.
Sie hatten sich in den frühen Morgenstunden getrennt: Telefonnummern, rasche Küsse, etwas verlegene Hast.
Arthur reiste früh ab.
Er wird jetzt also schon weg sein – war schon aufgebrochen, bevor sie herunterkam.
Er war sicher am Eingang zum Speisesaal vorübergegangen, an der Uhr vorbei und hinaus zu seinem Wagen, geschickt der Möglichkeit ausgewichen, dass ihre Mutter ihn sehen und erkennen, falsche Schlüsse ziehen, rufen könnte.
Und auch mir geschickt ausgewichen.
Ein aufkommender Wind lässt die großen Fenster klappern.
Aber darin steckt noch ein anderes Geräusch.
Ein Klopfen – vielleicht von fallenden Zweigen oder fliegendem Müll, Beth will gar nicht wissen, was, aber ihre Mutter steht auf. Das lässt Beth aufblicken, das Schlingern seltsamer Hoffnung spüren. Ihre Mutter ist aufgestanden und geht, schiebt sich langsam, ganz langsam aufs Fenster zu und starrt geradeaus, und da ist es.
Das Klopfen.
Da sitzt eine Elster – ein großer, hübscher Vogel, adrett in Schwarz und Weiß und diesem besonderen Glanz an den Schwungfedern – diese Prise Glamour, die man bei Rabenvögeln immer findet. Und dieser Vogel neigt den Kopf, nachdenklich und grüblerisch, neigt ihn in die andere Richtung und schaut herein, klopft noch einmal.
Und Beth ist ebenfalls aufgestanden, weiß gar nicht genau, wie, und ihre Mutter schiebt sich unmerklich näher ans Fenster, der Vogel nickt und beäugt sie, trippelt, klopft. Er hat etwas von Zirkus: kostümiert, trickreich, unnatürlich – schlauer Vogel – Taschendiebvogel – Zauberervogel.
Die Elster zeigt keine Angst. Der Vogel tappt mit dem Schnabel ans Fenster und pausiert dann – als erwarte er eine Antwort.
»Er möchte herein.« Die Stimme ihrer Mutter ist vorsichtig und fröhlich, erfreut. »Er möchte herein.« Cath schiebt sich ganz dicht ans Glas heran und berührt es mit der Hand, die Handfläche so
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