Das blaue Buch - Roman
viel, oder? – und entspannen ist das eine, aber man sollte sich nicht gehenlassen, wachsam bleiben. Und kauft keine unnötigen Schuhe. Und kauft keine unbequemen Schuhe. Ältere Verwandte sagen, was sie denken, sie sind oft ziemlich frech und geradeheraus, wenn sie dahingegangen sind, und sie wissen praktische Fußbekleidung zu schätzen, außerdem traditionelle Unterwäsche, ihre Großkinder, unerwartete Schwangerschaften, Regenbogen, durchdringende und unerklärliche Freudegefühle – sie halten auf ewig neue Nachkommen im Arm und sind überwältigt, versprechen Zuneigung, die Zeiten überdauert.
Das ist verlässlich und erwartbar.
Und der Mann hat seiner Geliebten erzählt, was er gehört hat, während er zuvor umhergeschlendert ist, eine hilfreiche Nichtraucher-Zigarette geraucht hat. Sie ist also bereit.
Sie macht zumeist die Arbeit. Er passt auf, wacht, beobachtet – zumeist – das eigentliche Kommunizieren ermüdet ihn, erzeugt zu außergewöhnliche Empfindungen.
Er hat berichtet, das Mädchen im kriminellen Pullover, zweite Reihe Mitte, habe schon ganz direkt nach ihrer Großmutter gefragt: Unerledigte Konflikte, schmerzhaftes Zeug, schlechtes Gewissen, das strömt aus ihr – und das Lesbenpärchen weiter hinten, die wollen ganz sicher irgendeine unglückliche Seele: ein junges, unglückliches, drogensüchtiges Ding, riecht nach Selbstmord, dunklen Grübeleien, Unsicherheit – erfordert Takt und Zartheit.
Diesmal ein neues Prozedere – er versucht sich ständig an Veränderungen, Verbesserungen – wenn er also in die Hände klatscht, dann soll sie anfangen, in der Stille zu zählen, bis er sich ans Ohr fasst, und die Zahl merken – er wird solange im Gang auf und ab gehen, die Augen offen halten nach Spannungen, Aufmerksamkeit, halben Bewegungen: der besondere Ring, das Medaillon, die Kleinigkeit von Bedeutung, das Erinnerungsstück. Wenn es auf wundersame Weise benannt wird, kann er es zu fassen kriegen, seiner Geliebten weitergeben, und sie wird erzählen, was es überträgt.
Sie hatten beide Lust auf ein wenig Psychometrie – »Gegenstände belästigen«, nennt er es –, was gut ins derzeitige Repertoire passt. Man nehme einen Gegenstand, enthülle den Besitzer, seine Geschichte, seine Emanationen, seine Bedeutung. Wenn er den Gegenstand zurückgibt, kann er den Fragenden Wärme und Vertrauen schenken, ist ein Talisman, der ihnen Glück bringt.
Was für ein Glück – sie sind entweder tot oder hier.
Aber sie werden glücklich nach Hause gehen. Sie werden losgesprochen, begleitet, geliebt. Sie werden geliebt, Scheiße noch mal.
Dafür sorgen wir.
Und es läuft gut. Bisher haben sie zwei Großmütter aus dem Jenseits zurückgeholt, und einen Onkel, der wie ein Vater war, und einen Großvater, der eher wie ein Freund wirkte – zwei Armbanduhren und ein Armband voller aufgeladener Bedeutung.
Und dann eine Mutter.
Sie ist gut, ein echter Treffer. Die Vorstellung, dass sie zurückkehren könnte, die Möglichkeit, dass sie hier im Raum neben ihrer lebenden Tochter denken, sein, zuschauen könnte – das verdichtet die Luft um sie herum – und die Versammlung wird wahrhaft still, lauscht bis ins Rückgrat – und das zerrt an der Tochter, lässt sie vom Sitz zucken.
Und dann – da ist es – wirklich – da ist der Sprung, eine Handspanne nur – die Wirklichkeit springt nach vorn, verändert ihre Aufmerksamkeit, schaut genauer hin, legt sich eng um die Haut des Mannes.
Es ist wundervoll.
Und dann weint die Tochter. Natürlich weint sie. Alles verlangt danach. Es gab ein endgültiges Missverständnis, ein anscheinendes Unrecht, das nicht vergeben wurde und das sie mit sich herumträgt, es lastet seit Jahren auf ihr. Und wie leicht, wie schön löst sich nun alles, so wie es sein soll: Zeit und Wahrheit ausgelöscht vom Willen, vom vereinten Willen – und die Tochter ist wieder die kleine Irene – sie ist die kleine Irene und hat ihre Mama – sie ist Irene und wieder glücklich, denn hier ist ihre reizende Mama: Erinnerungsfragmente, das Foto, das jetzt gerahmt werden sollte, das verbrannte Abendessen, der Streit an Weihnachten, der Vorfall mit dem Haustier – dem Hund, sie liebte Hunde – Irenes Mama in den freundlichen Jahren, die süße Zeit – und dieser Unsinn, diese Kleinigkeiten lassen den Saal begreifen, dass wir menschlich bleiben – dass beide Seiten des Todes menschlich sind, die noch Sterbenden und die schon Toten, dass diese sich aber auch als ewig erweisen. Dies
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