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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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dem zwanzigsten Jahrhundert. Als Geste wirkt es ein wenig jämmerlich, aber es gefällt ihm, damit seine Vorläufer und ihre Traditionen zu ehren, die aufgesetzten Gepflogenheiten und Einschränkungen eines anderen Zeitalters – nichts als Gehröcke und Nachnamen, bis die Lichter ausgehen, dann Séance-Zimmer voller flinker Finger, erlaubter Erlösung und klebrigem Nippes, der aus schicklich unausgesprochenen Regionen hervorgezaubert wurde. Er hat das Gefühl, sein Äußeres sei ein privater Witz – den nicht mal sie richtig versteht. Tatsächlich begreift fast niemand die Anspielung richtig, und derweil muss man sagen – hat man schon gesagt –, dass er aussieht wie General Custer. Wie Custer, nur nicht blond – nicht mehr.
    Er ist also in gewisser Weise lächerlich.
    Und gleicht einem Mann, der für seine Niederlage berühmt ist.
    Doch er liebt seine Figur und übernimmt bereitwillig ihre angebliche Zerbrechlichkeit.
    Weil er jung ist.
    Und er nimmt an – die Frau stimmt ihm zu –, dass die Menschen einem verheirateten, einem romantisch verbundenen Duo wohl nicht trauen würden. Also haben der Mann und die Frau ihre eigenen Gepflogenheiten und aufgesetzten Einschränkungen geschaffen. Das bedeutet, dass sie absolut sexfrei auftreten müssen – auch nicht der leiseste Hinweis auf irgendeine Unschicklichkeit ist gestattet – die Folgen eines Ausrutschers wären katastrophal – aufregend apokalyptisch – Inzestgerüchte würden ihre Karriere zerstören. Schon ein brüderliches Drücken ihrer Schulter könnte Hitze übertragen, ein Händedruck könnte unangemessene Gedanken demonstrieren – das könnten sie nicht wiedergutmachen. Die Disziplin muss total und gnadenlos sein.
    Auch das liebt er.
    Weil er jung ist.
    Beiden bleibt nichts anderes übrig, als alles, was sie sind und was sie brauchen, in die kurzen Überreste ihrer Nächte einzuschließen. Diese Anstrengung hilft ihnen, glaubt er – lässt ihre Vorführungen, ihre Kommunikation von verborgener und verstörender Energie pulsieren. Sie genießen sie beide und übertragen sie später, lassen sich mitreiten, mitreißen, in Hotels, Frühstückspensionen, in der Wohnung, wo er mit ihr schläft und wacht, denn sie sind Liebende: nicht verwandt, nicht verheiratet, sondern verliebt – Liebende, die sich verstecken, um stark zu bleiben, wirksam zu bleiben.
    Sehr oft also, wenn die Schlafzimmertür sich schließt, während sie noch zuschwingt, schmecken sie einander schon, suchen Erlösung. Das Verbot ist zur Notwendigkeit geworden, zum unfehlbaren Vorspiel, zum stärksten Kitzel.
    Weil er jung ist.
    Er lässt sich von der Arbeit streicheln, aufrichten, empfänglich halten, damit er fühlen kann.
    Und er fühlt – alles und jeden – er fühlt sich wie ein Geschundener, ein brennender Körper, wie an seinem eigenen Ende, nur damit er richtig sein kann, richtig für sie und für die anderen, die Fragenden.
    Für heute Abend.
    Und jeden Abend.
    Heute Abend.
    Heute Abend sitzen der Mann und die Frau nebeneinander in der Küche mit den Styroporbechern und den zuckenden Neonröhren und den Schleifen und Spitzen der Gespräche, die von draußen hereintaumeln.
    Und die verraten dir, wenn du zuhörst – und wie viele Menschen hören schon jemals zu – welches Tempo sie brauchen werden, oder wie viel Lachen, ob sie sich konzentrieren können, ob sie arschig sein werden, überschwänglich, traurig.
    Man sollte nie einem Publikum oder überhaupt irgendjemandem zum ersten Mal begegnen – nicht, wenn das zweite Mal besser ist. Bereite dich vor, dann kannst du schon ihr Freund sein, verwandt wie Blut.
    Und dann ist es Zeit.
    Sie schreiten nach draußen ins Nichts, ins Für-immer, in all das, was sein sollte und nie sein wird.
    Leicht.
    Er stellt seine Schwester vor, etabliert eine Art Frieden, Respekt, grundlegende Regeln: Die Toten werden wiederkehren – waren niemals weg – doch habt keine Angst, sie sind bekannter und wissender, vertrauter als zuvor – außerdem sind sie exzentrisch und wünschen sich Versöhnungen, verstecken kleine Gegenstände an verschiedenen Stellen des Hauses, verbringen unerklärlich viele Stunden mit der Überwachung von Fahrprüfungen – das ist vor allem ein kleiner Scherz für die Familie dort hinten in der Ecke – Töchter, Mutter, Tante – sie bekommen Ratschläge: nicht zu oft für die Mahlzeiten und Getränke anderer zu bezahlen – und was ist mit ihren eigenen Getränken? – sie trinken gelegentlich ein paar Gläschen zu

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