Das blaue Buch - Roman
knickrige Stadt nach der anderen, und in jedem Veranstaltungsort eröffnet eine Wohltätigkeitstombola den Abend, deren Preise aus wenig überzeugenden Elektrogeräten bestehen, oder persönlichen Sitzungen zu einem späteren Zeitpunkt, kostenlosen Heilungen oder eingehender Gebete zugunsten des Gewinners.
Und der Mann ist mit ihr hier – mit der Frau, mit seiner Liebe – sie sind zusammen und lächeln, wo es niemand sehen kann, sie kichern direkt unter der Haut. Sie sind das Geheimnis dessen, was sie miteinander sind, und alles, was an ihnen wichtig ist, bleibt außer Sicht. Der Mann und die Frau sind unter diesen Fremden versteckt und machen sich einen Spaß daraus, stecken dicht zusammen, so dass sie es behaglich haben, was auch geschehen mag. Sie könnten ewig so weitermachen, die beiden – wenn man ewig weitermachen könnte – die Codes austauschen und ausdenken: das Zählen, die Zeichen, die Gegenzeichen – wie Kuss gegen Kuss.
Heute Abend werden sie die volle Show liefern, eine richtig gute – niemand wird begreifen, wie gut. Ein Abend, an den man sich erinnern wird, liegt schon in ihnen bereit, tanzt, will jetzt beginnen und spielen: Sie spüren es wie Atem im Nacken.
Der Abend baut auf dem auf, was sie beim letzten Mal aufgezeichnet haben und was der Mann herausgefunden hat, seit sie angekommen sind – und das vor den Zeiten von Facebook und Twitter, ehe alle sich freiwillig nach vorn beugten, um sich an jeder verdammten Stelle inspizieren zu lassen. Der Mann muss für sein Wissen arbeiten, muss Klatsch und Hörensagen, Zeitungsausschnitte und Nachrufe, Friedhofsspaziergänge und Durchschnittswerte sammeln, Statistiken und Schätzungen, die immer wohl informiert sind – es sei denn, er und seine Geliebte spielen einfach nach Gehör, improvisieren – es sei denn, sie reiten auf der Welle des Saals, die sie irgendwohin mitreißt, und sie lassen es geschehen. Dieses Mitreiten und Mitreißen mögen sie – das können sie am besten, und heute Abend tun sie es in der Kirche von Ewiger Liebe, Licht und Hoffnung.
So steht es auf den Plakaten und Liedzetteln – Ewige Liebe, Licht und Hoffnung die Treppe hinauf und nach links, im zweiten Stock der Stadthalle.
Muss ja oben sein, wenn man Ewiges Licht, Liebe und Hoffnung sucht, hat schon seinen Grund.
Er nimmt an, dass sie sich gegen die Reihenfolge Hoffnung, Ewiges Licht und Liebe entschieden haben, weil die Abkürzung H.E.L.L. ihnen nicht gepasst hätte.
Aber man sollte es nicht schlechtmachen – entweder man tingelt durch die Kirchen, oder man landet in den Veranstaltungssälen der Pubs – mit klappriger Bühne und einem Tuch voller Glitzersterne als Hintergrund, wenn man Glück hat – da könnte man genauso gut Stripper oder Bauchredner oder ein zittriger Zauberlehrling sein, der sich Seidentücher unter den Daumen klemmt oder mit einer Taubenkasserolle klappert – kein bisschen Würde.
Hier auch nicht, es sei denn, man bringt sie selber mit – was wir auch tun.
Das Publikum ist drinnen, und er hat sich umgeschaut – die übliche Mischung aus Stammgästen, Neulingen, Gelegenheitsbesuchern, Verzweifelten: füllige Frauen in Glitzerblusen, kurze Ärmel über massigen Armen, Pailletten in Lila, Silber und Pink, Schmetterlinge, Sternenregen, Kleinmädchenvorstellungen von Fröhlichkeit.
Kein Schwarz, Schwarz sieht man nur bei Skeptikern: So unterstreichen sie ihre Trauer um alle anderen: nur Schmerz, kein Trost, scheißselbstgefällig.
Aber heute sind keine Skeptiker da – heute Abend nur Lederjacken, Raucherhusten – Medaillons und Armbänder und Halsketten mit eingravierten Namen, mehr noch bei den Männern – sie kriegen das schwere Gold, dicke Kettenglieder, schwere Armbanduhren, Siegelringe und Freimaurersymbole, Pionierabzeichen, Gewerkschaftsanstecker, Verkehrsclubnadeln, Buchstaben auf Fingern und Schwalben auf der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger, einzelne Ohrringe – ganze Charakterkataloge werden hier präsentiert – und grell gemusterte Hemden, und pedantisch gekämmte Haare. Aber es sind vor allem Frauen da – das ist eine Frauensache, ein Frauengeheimnis – plaudernde Frauen, lärmende Frauen, nachdenkliche Frauen – kleine tätowierte Liebesherzen, oder bunte Sterne – zu zweit, in Gruppen, ganze Ausflüge: Familienähnlichkeiten, Kolleginnenkreise – geliehene Kleidung, geteilte Kleidung, geklaute Kleidung, eBay-Kleidung – Schminkstile – beste Freundinnen – und sie sind aufgeregt, nervös, vorfreudig
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