Das blaue Buch - Roman
das wird sie nicht.
Der Mann muss weiter, an ihr vorüber und weitergehen.
Er wechselt die Straßenseite, biegt nach links ab, noch mal nach links, noch mal und noch mal, und da parkt der Wagen immer noch – kein Motor an, kein Licht, aber Vicki sitzt auf dem Fahrersitz.
Sie wartet so intensiv, dass es die ganze Straße verzerrt, seine Handflächen kribbeln lässt.
Er verlangsamt seinen Schritt und sieht ins Schaufenster des einzigen Geschäftes – es ist Gott sei Dank ein Immobilienmakler, und die Vitrine erfordert eingehende Betrachtung. Er zieht einen Zettel hervor und tut so, als würde er mit einem Stift Notizen machen, der in Wirklichkeit noch in seiner Tasche steckt, denn im Vortäuschen ist er gut.
Lügen.
Autoschlüssel.
Sex.
Man hört ein Geräusch, einen Aufschlag, eine Tür, die zugedrückt wird, vielleicht, vielleicht, er ist nicht sicher.
Schau nicht hin.
Er hört einen Motor anspringen. Doch wenn es ihr Wagen ist, dann kann sie nicht wegfahren – nicht allein – das darf sie nicht, das wird er nicht glauben.
Ich kann mich nicht irren.
Ich werde mich nicht irren.
Ah, und da fahren sie ja, und ich habe mich verdammt noch mal nicht geirrt.
Ihr Wagen rollt sanft an ihm vorüber, und er kann hineinspähen: Zwei sind drin – Vicki und ihr Typ – derselbe Typ – er sitzt neben ihr.
Ich hatte recht. Haargenau recht.
Getroffen.
Volltreffer.
Die Hochstimmung liegt auf jeder Oberfläche wie der Glanz frischen Regens.
Ich habe sie aufgeschlossen – habe sie gelesen, verdammt – ich habe so lange darauf gedrängt, dass es mir endlich erlaubt wurde, es hat nachgegeben, und ich bin durchgedrungen – ich bin frei – ich bin in der Luft, und ich falle nicht – scheiße, ich fliege, ist das schön.
Der Mann geht – schneller und dann noch schneller – ihn hungert nach anderen Menschen, und jedes Gesicht, jeder Körper, der an ihm vorübergeht, berührt ihn tief und zärtlich – die offenen Bücher, die sie für ihn unter den Straßenlampen sind, während sie ihre Zustände verstärken und verändern, ihre Natur beichten: betrunken, betrunkengeil, seltsam-und-depressiv-wilder-Schmerz, abwesend, betrunkenängstlich, leichtsinniggeil.
Er versteht.
Er kennt sie.
Und er weiß, er ist ein Phänomen.
Traurig eigentlich, dass er fast einzigartig ist, denn jeder müsste gewillt sein, sich sehen zu lassen, einander zu finden.
Aber es kann nicht jeder, will nicht jeder, kann nicht, und ich kann.
Und er ist begeistert.
Im Dauertrab über die späten Gehsteige: Da ist er, und da ist seine Spezies, seziert, leuchtend von Informationen, Geheimnissen, Wünschen, Ängsten – so sehr, dass es ihn verzaubert, schwindeln macht.
Er kann jeden lesen.
Er ist ein brennender Mann und liest in seinem eigenen Licht.
Irgendwie ist es nach Mitternacht, als der Mann in sein schäbiges Bed&Breakfast schleicht – Duschenbenutzung am Ende des Treppenabsatzes, kein Fernseher – und seine Geliebte aufweckt. Wenn jemand dies mit ihm teilen kann – und irgendjemand muss es teilen, allein zu bleiben, würde ihm die Freude rauben – dann muss sie es sein.
Sie wird es sein.
Er rüttelt an ihrer Schulter und plappert los, während sie nicht richtig zuhört, nicht übermäßig erfreut ist. Keine Codes, kein Betrug, keine bedeutsamen Zahlen, ein ganz gewöhnliches Gespräch – direkte Erfahrung – doch sie will nichts davon wissen, ist kaum interessiert. Seine Geliebte will ihn nicht hören, hält nicht Schritt.
Eine kühle Last legt sich auf seine Rippen und bewegt sich nicht mehr.
Schließlich haben sie Streit, ohne sich hinterher zu versöhnen.
Nicht, was er erwartet hat.
Kann also nicht jeden Menschen lesen.
Die fehlende Verbindung zieht ihm die Haut zusammen, schmerzt ihn.
Einen Augenblick fürchtet er, sie sei zu weit weg, unwiederbringlich.
Und fürchtet noch mehr, dass er sein neues Talent schon wieder verloren hat, dass es ihm nicht dauerhaft gehört, dass heute Abend nur ein Zufall war, oder ein Trugbild, das er nie wieder einholen oder auch nur beschreiben können wird.
Der Mann und seine Geliebte liegen auf dem Rücken, getrennt und schlaflos in zwei schmalen Einzelbetten. Schließlich stolpern sie hoch und in den Morgen, als der endlich kommt – können kein Essen vertragen, kein Geplauder – weiteres Schweigen auf der trüben Fahrt in ihre Wohnung.
Doch der Mann glaubt, dass seine Geliebte ihn weiter besitzt und festhält, ob sie einander nah scheinen oder nicht – er ist gebunden,
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