Das blaue Buch - Roman
– ein nettes Abendprogramm – sie würden sich gern unterhalten lassen und haben keine Verpflichtungen, jedenfalls keine spürbaren: Sie wollen es locker halten, meinen sie – trotzdem manchmal seltsam still – Neugier, leichtes Interesse, mehr würden sie nicht zugeben – Sie erklären, dass sie sich nicht hinters Licht führen lassen, dass sie es gern erleben würden, einen Kontakt, das würde ihnen große Freude machen, ihnen Frieden bringen, aber niemand kann ihnen einen Bären aufbinden – sie werden offen für alles sein – denn das ist, auch wenn sie es nicht wissen, die wichtigste Voraussetzung – ein offener Geist.
Und wir öffnen ihn noch weiter, bis er zittert, bis ihr uns nicht mehr aufhalten könntet, auch wenn ihr es wolltet.
Aber ihr werdet es nicht wollen.
Und dann kommen wir herein.
Und wir machen uns in euch zu schaffen, bis wir euch aufgebrochen und aufgespürt haben, wer ihr seid, bis bei euch alles anders ist, absolut anders – und das wollt ihr auch, das wollen alle immer – nackt und offen sein, erkannt und berührt, aber immer noch geliebt werden – vollkommen gekannt werden und sich als vollkommen liebenswert erweisen.
Nicht trotz unserer Persönlichkeit, sondern wegen ihr, wegen unseres schrecklichen Charakters – so wollen wir alle geliebt werden.
Wir wissen, das würde uns verändern, würde uns vollkommen machen.
Und unter all dem Lächeln und der Aufregung ist der Mann bereits im Gleichklang mit seinem Publikum, mit den Fragenden – er versteht sie, und er liebt.
Er hat sich die Zeit genommen, sie zu untersuchen, ganz umfassend, und sie zu finden – ihre Wahrheit. Denn sie ist da: das Grau in ihren Gesichtern, die Leere in jeder Morgendämmerung, der Schrei in ihren Augen, das Heulen, der Augenblick, der Jetzt-und-für-immer-Augenblick, der Moment, an dem sie hörten, spürten, wussten, dass die Welt sie verlassen hatte, weggebrochen war – diese unerträglichen Verluste, die sie mit sich herumtragen, unaussprechlich. Jeder Mensch könnte sehen, was er sieht, wenn er es versuchte – es ist nicht schwer, die Erniedrigung eines zu großen Schmerzes zu bemerken. Diese Würdelosigkeit lässt sich nicht verbergen.
Lässt sich nicht ertragen.
Und darum werden der Mann und die Frau so sehr gebraucht.
Der Mann und die Frau zusammen.
Als Paar.
Er hatte angenommen, sie könnten besser arbeiten, wenn sie sich als Geschwister ausgeben. Das ist eine Art Scherz – er sieht ihr nicht im Entferntesten ähnlich. Sie ist runder – oder eher voller – hat eine kleinere Nase – ihr Körper, ihre Hände, ihr Mund sind bescheiden, doch sie versprechen Freuden, Sinnlichkeit. Er wirkt eher geschwächt, sein Körper könnte spröde sein, beinahe erschreckend und erschreckt. Er hat sein Haar so dunkel gefärbt, dass es ihrem ähnelt – wenn auch weniger begeistert wirkt – doch dadurch sieht er wirklich alarmierend aus, die bleiche Haut wie eine Art Warnung – die Illustration der Symptome, welche ein verfehltes Leben, schlechte Gewohnheiten, Exzesse nach sich ziehen.
Als Paar passen sie nicht zusammen. Doch wie sie sich bewegen, wie sie miteinander sind – das überzeugt.
Sie tun auf der Bühne nicht so, als seien sie ein Ehepaar, oder geben – wahrheitsgemäß – zu, dass sie ein Liebespaar sind. Sie versuchen, mehr zu sein, sich als zwei Menschen darzubieten, die für andere Welten geboren sind. Sie haben Gerüchte von Kindheitsvisionen, verängstigten Nachbarn, verblüfften Eltern, hypnotisierten Katzen verbreitet.
Das war die Entscheidung des Mannes, und er bleibt dabei. Seit sie Komplizen in ihrer Art des Verbrechens geworden sind, besteht er darauf, dass sie eine Täuschung um die Täuschung um die Täuschung legen.
Scheint ihm eine gute Idee. Weil er jung ist.
Komplikationen schmecken ihm kultiviert – wie Salz und Protein, wie eine angewöhnte Vorliebe, eine Leckerei – und er hält sie für harmlos. Er steckt voller Ideen unwiderstehlichen Erfolgs und hat die Illusion, dass eindeutige Festlegungen seinen Fortschritt irgendwie befördern, die Wirklichkeit beeindrucken werden. Er stellt sich eine heimliche Heirat irgendwann vor, und dann ein Leben erfreulich knapper Fluchten und stets fiebrig bleibender Leidenschaften, weil sie ständig unterdrückt und verleugnet werden müssen.
Und er trägt immer noch das Haar lang und den Bart – möchte unbedingt viktorianisch erscheinen, wie ein Medium aus den goldenen Tagen des Spiritismus im Anzug von der Stange aus
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