Das blaue Buch - Roman
seine Fäuste in den Taschen stecken, doch Beth spürt, dass sie unten hinter ihrem Rücken verschränkt sind. Ihre Finger liegen an seiner Brust, seinen Rippen, seinem Atem, seiner dünnen Gestalt, zurückgeworfen auf seine letzten Linien, auf den Kampf seiner Gedanken, seiner Absichten. »Hör zu, Beth. Hör mir zu. Da gibt es Glockenblumen. Im Frühjahr. Leimkraut , weißes Leimkraut , Schlüsselblumen, Grasnelken, Veilchen, Hornklee , Bärlauch in weißen Schwaden – alle möglichen Blumen – aber die Glockenblumen mag ich besonders – in der Dämmerung leuchten sie – sie geben den ganzen Sonnenschein des Tages zurück, und wenn ich an den Abhängen um mein Haus vorbeigehe – sehr hohe Abhänge – dann sehe ich sie dort, und ich rieche das Blau – es hat einen Geruch – und der puderige, parfümige, zuckrige Ginster: der riecht nach billigen Bonbons und Gesichtspuder, und das liebe ich auch – und darunter liegt der Duft der Insel – wie ein großer Hund – ein großes, warmes Tier – holzig und raffiniert und staubig und lebendig und salzig, und den liebe ich am meisten – die Stiefel von echtem Staub bedeckt, und nach der ersten Nacht rieche ich selbst nach der Insel und vergesse, wer ich bin und was ich tue, und ich wandere umher – ja, ich meide immer noch das Sonnenlicht, meistens meide ich die Sonne – du weißt, das muss ich, wegen … und ich würde auch verbrennen – wenn man blond ist, verbrennt man leicht, und es ist schon ewig her, dass ich im Sommer draußen war, so richtig in der Sonne – auch wegen der anderen Sachen – aber ich kann damit aufhören – ich könnte aufhören, ich … und manchmal sitze ich im Garten unter dem Baum – aber meistens wandere ich nachts herum, mit Taschenlampe, oder finde den Weg aus dem Gedächtnis – auf der Insel gibt es keine Straßenlampen, darum sind wir gut an die Dunkelheit gewöhnt – wir haben alle unsere Geheimnisse – wir kennen sie alle, aber wir behalten sie für uns, wir sind höflich – und ich gehe an den Klippen entlang, ich merke am Atem des Meeres, wo es sicher ist – so wie es auch hier atmet – ein Dunkel, lebendig im Dunkeln – nicht zu dicht am Rand und nicht zu weit davon, das versuche ich, ich will nicht fallen – dasselbe Meer wie dieses – und ich gehe auf Wegen, die noch warm sind, die Wärme der Haut – es ist gefährlich – ein wenig – gelegentlich – hängt davon ab, wo ich hingehe – aber auch nicht sehr, denn ich erinnere mich, ich habe die Formen der Insel gelernt, wie sie sind, was sie wollen – und wenn ich wieder nach Hause komme und sicher hinter meiner Anhöhe bin, im Inneren meines Walls – das Haus liegt etwas zurück von einem tief eingeschnittenen Pfad – der ist eingegraben, weißt du, von Füßen und Karren, über sehr lange Zeit – und darüber das Haus – ganz versteckt hinter Hecken – in der Hecke nisten Zaunkönige – Schwarzdorn und Brombeeren und Geißblatt, sie mögen so ein Dickicht … hast du schon mal einen Zaunkönig im Frühling gesehen? Der ist so winzig, dass man ihn in der Hand verbergen könnte, und der Schwanz so aufgerichtet, und da sitzt er, und Musik strömt aus ihm – mächtige Musik – er spreizt die Flügel, strotzt davon, ist ganz aufgefächert von seinem Sein, von seinem Drang – er möchte größer sein, und das ist er auch – ich habe einen Zaunkönig – ein Pärchen – die wohnen nebenan – und ich habe mein Haus, die Wände aus rosagrauem Granit, meterdick für den Winter, und in die Schornsteine sind Sitzsteine für die Hexen eingebaut, damit sie einen nicht im Haus belästigen – wenn du an die Hexen glaubst, dann glaubst du auch, dass du die Steine brauchst – dass man die Hexen nicht sieht, liegt nur daran, dass die Sitzsteine sie abhalten – so funktioniert das – Glaubenssache – ich weiß, du verstehst das, auch wenn du es nicht mehr willst – und ich habe eine Veranda für die Stiefel und mit Haken zum Aufhängen – meine Stiefel, meine Mäntel, meine Hüte – einen anständigen Kamin im Wohnzimmer – der Schamottstein ist alt und riesengroß – ein dicker Kaminsims, aber nicht viel drauf, ich mag ihn so, wie er ist – kein Zierrat drauf und keine Fotos – keine Fotos – und Teppiche, zwei Sessel – meiner und ein Gästesessel, oder eher meiner und noch einer, aber nur aus Symmetriegründen, denn ich habe keine Gäste – weißgekalkte Wände – und mein Schreibtisch steht im Arbeitszimmer, mit einem praktischen Stuhl und
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